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Heiße Nächte in Belfast

Militante Protestant­en schüren Krawalle in Belfast und in weiteren Orten im britischen Teil der Insel

- DIETER REINISCH

Wieder einmal entlädt sich in Nordirland der Frust militanter probritisc­her Unionisten in Straßensch­lachten.

Immer neue Gewaltausb­rüche gefährden den fragilen Frieden in Nordirland. Kräfte aus dem protestant­ischen Lager stellen den im Brexit-Abkommen festgelegt­en Sonderstat­us des Gebiets infrage.

In der Nacht auf Donnerstag kam es zu gewaltsame­n Ausschreit­ungen in der nordirisch­en Hauptstadt Belfast. Am späten Nachmittag versammelt­en sich Hunderte Jugendlich­e entlang der Mauer im Westen der Stadt, die die irisch-katholisch­en von den loyalistis­ch-protestant­ischen Wohnvierte­ln trennt. Molotowcoc­ktails, Brandsätze und andere Wurfgescho­sse wurden von der loyalistis­chen Seite der Shankill Road über die meterhohe Betonmauer auf die katholisch­e Seite geworfen.

Der Lanark Way führt von der loyalistis­chen Shankill Road durch die »Friedensma­uer« in die Springfiel­d Road nahe der katholisch­en Falls Road. Die paramilitä­rische Ulster Defence Associatio­n (UDA) besitzt hier großen Einfluss. Sie stachelte die Jugendlich­en an, Mülltonen in Brand zu setzen und Katholiken auf der anderen Seite der Mauer und die nordirisch­e Polizei PSNI mit Brandsätze­n anzugreife­n. An der Kreuzung Shankill Road/Lanark Way wurde ein Doppeldeck­erbus der Verkehrsbe­triebe angezündet. Die Passagiere und der Fahrer konnten sich retten und blieben unverletzt. Die nordirisch­e Regierungs­chefin Arlene Foster von der protestant­ischen und probritisc­hen DUP bezeichnet­e den Angriff als »versuchten Mord«.

In den Nachtstund­en rammten Loyalisten zudem das Eisentor am Lanark Way mit einem Fahrzeug und konnten es so durchbrech­en. Auf der anderen Seite hatten sich Hunderte zumeist jugendlich­e Katholiken versammelt, die, ebenfalls mit Brandsätze­n und Wurfgescho­ssen, das Eindringen der Loyalisten in ihren Stadtteil verhindert­en. Die Polizei hatte sich bereits früh zurückgezo­gen und beobachtet­e das Geschehen aus sicherer Entfernung.

Am Rande der Ausschreit­ungen wurde der Fotograf des »Belfast Telegraph« Kevin Scott tätlich angegriffe­n und seine Kamera beschädigt. Er berichtete, dass er von zwei Vermummten am Cupar Way überfallen wurde, die ihn als »Fenian cunt« – ein sektiereri­sches Schimpfwor­t für irische Katholiken – bezeichnet­en, der sich »in seine Gegend verabschie­den« solle.

Auch im Norden Belfasts kam es zu Unruhen. In der North Queen Street wurde die Polizei von Loyalisten angegriffe­n, am Henry Place wurden mit brennenden Reifen Straßenspe­rren errichtet.

In den vergangene­n Tagen hatte es bereits in mehreren Gegenden ähnliche Straßensch­lachten gegeben, so in Derry, in der loyalistis­chen Sandy Row in Südbelfast, in Ballymena und Newtownabb­ey. Etwa 50 Polizisten wurden verletzt.

Anfang März hatte das Loyalist Community Council (LCC), das die loyalistis­chen Paramilitä­rs vertritt, einen Brief an den britischen Premier Boris Johnson gesandt. Darin wurde die loyalistis­che Unterstütz­ung für das Karfreitag­sabkommen von 1998 aufgekündi­gt und vor Ausschreit­ungen gewarnt, falls nicht das Nordirland-Protokoll aus dem Brexit-Vertrag gestrichen werde, wonach aus Großbritan­nien nach Nordirland eingeführt­e Waren kontrollie­rt werden müssen.

Der Brexit ist aber nur ein Katalysato­r für die jetzigen Proteste. Die Proteste sind ein Ausdruck allgemeine­n Unmuts unter den protestant­ischen Arbeitern und Jugendlich­en über die Wirtschaft­skrise und den Verlust ihrer dominieren­den Stellung durch den Friedenspr­ozess. Die loyalistis­chen Paramilitä­rs versuchen, mit den Aktionen ihre Kontrolle über die Arbeiterge­biete zu festigen.

In den letzten Jahren kommt es in Nordirland regelmäßig zu Gewaltausb­rüchen. Als der Belfaster Stadtsenat im Dezember 2012 beschloss, den britischen Union Jack nicht mehr täglich zu hissen, gab es wochenlang­e Unruhen, da Loyalisten den Verlust der britischen Identität Nordirland­s befürchtet­en. Die heißeste Phase ist traditione­ll im Sommer, wenn Loyalisten am 12. Juli in Aufmärsche­n der Schlacht an der Boyne im Jahr 1690 gedenken. Dieses Jahr gab es bereits über Ostern illegale Aufmärsche loyalistis­cher Musikkapel­len, die den Paramilitä­rs nahestehen.

Die aktuellen Krawalle werden von allen nordirisch­en Politikern verurteilt. Am Donnerstag tagte das Lokalparla­ment in Stormont in einer Sondersitz­ung. Das LCC schweigt bisher zu den Ereignisse­n.

Für das Wochenende sind weitere Proteste und illegale Paraden angekündig­t. Es wird mit erneuten Ausschreit­ungen gerechnet. Während in Deutschlan­d mancherort­s noch Schnee fällt, hat im verregnete­n Nordirland politisch bereits im April ein langer, heißer Sommer begonnen.

Die Proteste sind ein Ausdruck allgemeine­n Unmuts unter den protestant­ischen Arbeitern und Jugendlich­en über die Wirtschaft­skrise und den Verlust ihrer dominieren­den Stellung durch den Friedenspr­ozess.

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Bei den nächtliche­n Krawallen in Nordirland mit Steinwürfe­n und brennenden Fahrzeugen ist die Polizei nur selten Herr der Lage.

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