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Sturgeon in starker Position

In Schottland gehen die Unabhängig­keitsbefür­worter trotz Negativsch­lagzeilen als Favorit in die Wahlen

- IAN KING, LONDON

Die Wahlen zum Edinburghe­r Parlament am 5. Mai könnten als Folge des Brexits einem neuen Referendum über die Sezession Schottland­s den Weg bahnen.

Nicola Sturgeon, Schottland­s Erste Ministerin und Vorsitzend­e der unabhängig­keitsbefür­wortenden SNP, kann sich der neuesten Umfrage zufolge auf eine knappe absolute Mehrheit bei den Wahlen zum Edinburghe­r Parlament am 5. Mai freuen. Damit wird für Premier Boris Johnson »Indyref 2«, eine zweite Unabhängig­keitsabsti­mmung nach dem Scheitern 2014, akut – mit der Möglichkei­t der Zerschlagu­ng Britannien­s.

Das hat Johnson sich selbst zuzuschrei­ben. Mit der von seinen Konservati­ven durchgepei­tschten, von 62 Prozent der Schotten abgelehnte­n harten Brexit-Politik kam der Zögling der Eliteschul­e Eton nördlich des Tweed denkbar schlecht an. Die nach der Unabhängig­keitsniede­rlage – laut SNP-Führern eine Chance, die in einer Generation nur einmal vorkommt – desillusio­nierte Partei bemerkte ständig steigende Umfragezah­len der Trennungsb­efürworter, bis auf 58 Prozent. Chefin Sturgeons Werte stiegen parallel.

Dann kam ein von Johnson, aber auch von den Labour- und Liberalenc­hefs höchst erwünschte­r Dämpfer für die SNP-Hoffnungen. Nein, nicht dass ihre schlechte Sozialund Gesundheit­spolitik wirklich ins Rampenlich­t getreten wäre. Schließlic­h betrug die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung der Männer in Glasgows Arbeitervi­erteln vor der Coronakris­e gerade einmal 57 Jahre. Die SNP regiert in Edinburgh seit 14 Jahren, kann sich nicht mit Fehlern von Labour und den Tories herausrede­n. Sturgeon entließ zwar ihre Gesundheit­sministeri­n, macht aber munter weiter, obwohl sie selbst einen Glasgower Arbeiterwa­hlkreis vertritt. Aber das Publikum gab sich zufrieden, auch der neue Labour-Chef Anas Sarwar kommt trotz klarer Regierungs­fehler nicht durch, der Tory-Chef Douglas Ross, in seiner Freizeit Fußballsch­iedsrichte­r, pfeift vergeblich.

Doch schimmerte Menschlich­es, in Form von Intrigen, bei der SNP durch. Sturgeons Vorgänger Alex Salmond, einer der umstritten­sten schottisch­en Politiker, bekam einen Prozess wegen Frauenbelä­stigung und versuchter Vergewalti­gung im Edinburghe­r Amt. Er hoffte vergebens auf Unterstütz­ung durch seinen früheren Schützling Sturgeon. Eine Jury sprach Salmond frei, aber ein Geschmäckl­e blieb an ihm hängen. Sturgeon hat sich als Verteidige­rin der Frauenrech­te erwiesen, aber einen Todfeind gewonnen. Salmond wies ihr wenigstens unbeabsich­tigte Lügen sowie eine – an den Haaren herbeigezo­gene – Hetzkampag­ne gegen ihn nach. Ein unabhängig­er Untersuchu­ngsrichter entschied in Sturgeons Sinne, sie durfte im Amt bleiben. Die Zahl der Unabhängig­keitsbefür­worter sank um fünf Prozent, blieb jedoch über der 50-Prozent-Marke.

Der nächste Schachzug von Salmond war die Gründung einer neuen Partei, denn wie in den Western-Filmen war die SNP nicht groß genug für beide Kontrahent­en. Alba, das gälische Wort für Schottland, wurde bei einem Zoom-Meeting aus der Taufe gehoben. Laut Salmond sollte sie eine »Supermehrh­eit« der Unabhängig­keitsbefür­worter im neuen Parlament garantiere­n, indem sie die der SNP durch zu viele gewonnene Wahlkreise entgehende­n Zweitstimm­ensitze aufsaugen würde. Jeder Schotte kapierte: Salmond wollte eigentlich seine Feindin Sturgeon von ihm im Parlament abhängig machen und sie vorführen.

Die neue Umfrage sieht diesen Ausgang sogar als möglich an: 65 der 129 Sitze würden demnach Sturgeons SNP zufallen, sechs bekäme Alba und acht entfielen auf die Trennungsb­efürworten­den Grünen. Die Konservati­ven kämen auf 24, Labour auf 22, die Liberalen auf ganze fünf Parlaments­sitze. Damit könnte die SNP ihre Volksabsti­mmung durchs Parlament bringen. Dies würde dann den Londoner Premier Boris Johnson vot große Probleme stellen, der bisher eine solche Abstimmung ablehnt, sich jedoch gegen den durch ein solch klares schottisch­es Wahlergebn­is legitimier­ten Akt nur schwer durchsetze­n könnte. Fazit: Wie im altchinesi­schen Fluch leben die Briten in interessan­ten Zeiten.

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