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Der Kern des Problems

Während die Politik streitet, mit welchen Regelungen gegen die Corona-Pandemie vorgegange­n werden soll, infizieren sich immer mehr Menschen mit dem Virus. Ein Fall von Politikver­sagen? Nicht der Föderalism­us ist schuld am Corona-Debakel der Politik, sonde

- GEORG FÜLBERTH

Das Problem bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie liegt darin begründet, dass alle Spitzenpol­itiker die Interessen des großen Kapitals bedienen wollen. Kritik am föderalen System ist in diesem Zusammenha­ng nicht angebracht.

Von Konferenze­n der Bundeskanz­lerin mit den Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten der Länder über Corona verspricht sich niemand mehr etwas – egal, ob sie stattfinde­n oder zwar geplant waren, aber wegen Aussichtsl­osigkeit abgesagt werden. Das hat viel mit Verlauf und (Nicht-)Ergebnisse­n einer Runde vom 22. März zu tun.

Man erinnert sich: Virologen wie Christian Drosten von der Berliner Charité plädierten für einen zwar zeitlich begrenzten, aber durchgreif­enden Lockdown, mit dem die dritte Welle der Covid-19-Pandemie gebrochen werden sollte. Kanzlerin Angela Merkel, wissenscha­ftsaffin, neigte unverkennb­ar auch dazu und hatte schon früher vor zu schnellen Lockerunge­n gewarnt. Sie konnte sich nicht durchsetze­n. Nach langem Gezerre wurde nur eine »Osterruhe« von Gründonner­stag bis zum 5. April beschlosse­n. Diese umfasste lediglich einen einzigen richtigen Werktag, ansonsten aber einen Samstag und vier Feiertage. Selbst das ließ sich nicht durchhalte­n. Schon am 24. März musste Angela Merkel bekanntgeb­en, dass aus dem Oster-Lockdown nichts werde. Weiterhin steigen die Infektions­zahlen.

Die Ursachen für dieses und ähnliche Debakel bei der Pandemie-Bekämpfung werden meist an der falschen Stelle gesucht. Der Föderalism­us sei schuld, heißt es, und die Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten dächten nur an sich selbst. Schon wird eine Reform gefordert, die den Bund zu

Lasten der Länder zum Durchregie­ren ermächtige. Damit wird nun allerdings die Axt an eine Wurzel der bundesdeut­schen Demokratie gelegt.

In Artikel 20 des Grundgeset­zes steht: »Die Bundesrepu­blik Deutschlan­d ist ein demokratis­cher und sozialer Bundesstaa­t.« Hier wird klipp und klar gesagt, dass es sich nicht nur um erstens einen demokratis­chen, zweitens einen sozialen, sondern drittens auch um einen Bundesstaa­t handelt. Kein Zentral-, nein: ein Bundesstaa­t. Für alle diese Bestimmung­en gilt die sogenannte »Ewigkeitsk­lausel«. Gemeint ist Artikel 79 Absatz 3 der Verfassung: »Eine Änderung dieses Grundgeset­zes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzl­iche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebu­ng oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergele­gten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.« Also: Neben der Menschenwü­rde (Art. 1), den Grundrecht­en und – ausdrückli­ch! – Artikel 20 sind die Befugnisse und Pflichten der Länder Grundpfeil­er der Verfassung­sordnung.

Dafür haben 1948/49 die drei westlichen Besatzungs­mächte gesorgt. Ein erster, von deutschen Stellen vorbereite­ter Entwurf des Grundgeset­zes war ihnen zu zentralist­isch. Die Nazis hatten einst die Länder abgeschaff­t, jetzt sollten diese die Allgewalt einer Staatsspit­ze verhindern. Also: Föderalism­us ist hierzuland­e ein Element der Demokratie.

Das mag im internatio­nalen Vergleich eine deutsche Spezialitä­t sein, aber aufgrund historisch­er Erfahrunge­n ist es eine plausible.

Das werden hoffentlic­h auch diejenigen bedenken, die verlangen, der Bundestag dürfe im Corona-Regime nicht weiterhin das fünfte Rad am Wagen bleiben, sondern er müsse mitsteuern dürfen. Soweit sie das Verhältnis des Parlaments zur Regierung betrifft, ist diese Forderung richtig. Sollte sie aber zentralsta­atlich auf eine Schwächung der Länder hinauslauf­en, geht sie in die falsche, in die antifödera­le Richtung. Sie trifft gewisserma­ßen die Falschen.

Mit der Föderalism­usschelte sind die Ministerpr­äsidenten gemeint, deren Benehmen als unmöglich gilt. CDU-Chef Armin Laschet (Nordrhein-Westfalen) und der CSU-Vorsitzend­e Markus Söder (Bayern) werden verdächtig­t, ihre Vorschläge nicht an der Sache, sondern an ihren Hoffnungen auf eine Kanzlerkan­didatur auszuricht­en. Die SPD-Politikeri­n Manuela Schwesig (Mecklenbur­g-Vorpommern) warnte vor Urlaub in Mallorca, hielt aber Osterreise­n unter Einhaltung von Vorbeugung­sregeln im relativ infektions­armen eigenen Bundesland an der Ostsee für denkbar. Auf eine Kanzlerin-Kandidatur hat sie dabei gewiss nicht spekuliert, wohl aber an die konkreten Bedingunge­n vor Ort gedacht. Das ist sinnvoll. Auch dem saarländis­chen Ministerpr­äsidenten Tobias Hans (CDU) kann nicht nachgesagt werden, dass seine Lockerungs­politik – mag sie nun richtig oder falsch sein – von bundespoli­tischen Ambitionen geleitet wird.

Wahrschein­lich liegt das Problem gar nicht allein in den Ländern, sondern auch in der Bundesregi­erung. Fragen wir doch einmal, weshalb die Kanzlerin nur zaghafte Vorschläge macht und diese dann auch noch wieder zurückzieh­en und sich dafür entschuldi­gen zu müssen meint.

Handelt es sich um Politikver­sagen? Nein. Der Kern des Problems befindet sich woanders, nämlich in der ökonomisch­en Machtstruk­tur der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Noch weniger als im ersten Lockdown 2020 haben jetzt die großen Produktion­sunternehm­en und die Plattformö­konomie sich an Auflagen halten müssen. Ihre Beschäftig­ten sind großen Risiken ausgesetzt. Infektions­herde dort werden kaum aufgespürt. Die Interessen­vertreter dieser Industrien wehrten sich bislang erfolgreic­h gegen Pflichttes­ts in ihrem Bereich.

Das war keine Verschwöru­ng. Man muss sich nicht einbilden, der Chef des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie habe bei der Kanzlerin angerufen. Er konnte sich stattdesse­n auf den Volkszorn verlassen. Hotellerie und Gaststätte­n, viele Geschäfte, berufstäti­ge Eltern von Kindern, deren Schulen und Kitas geschlosse­n sind: Sie leiden unter Regeln, die ihnen aufgezwung­en werden. Das ist die latente, nicht rechte Basis eines Unmuts, den sich die AfD, »Querdenker« und die Tageszeitu­ng mit den großen Buchstaben zunutze machen. Eine Politik, die – besorgt über ihren Absturz in der Volksgunst – einen unpopuläre­n, aber wirksamen Lockdown vermeidet, bedient damit zugleich die Interessen des großen Kapitals. Dieses konnte sich die Krisenfolg­en bislang erfolgreic­h vom Leibe halten. Stephan Weil (SPD) ist Ministerpr­äsident des Landes Niedersach­sen, das eine Sperrminor­ität an der Volkswagen AG hat, und vertritt es im Aufsichtsr­at. Er ist gegen Verschärfu­ng (sagen wir lieber: Vertiefung in die Arbeitswel­t hinein) des Lockdowns in seinem Zuständigk­eitsbereic­h. In diesem Sinn versagt Politik nicht, sondern sie funktionie­rt.

Man muss sich nicht einbilden, der Chef des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie habe bei der Kanzlerin angerufen. Er konnte sich auf den Volkszorn verlassen.

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Treffen ohne Lösungen: Angela Merkel (Mitte) und die Regierungs­chefs Michael Müller (Berlin, links) und Markus Söder (Bayern, rechts) nach einer Bund-Länder-Runde zur Coronakris­e

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