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Digitales Gedenken

Im Lockdown bleiben bei der Stiftung brandenbur­gische Gedenkstät­ten die Besucher aus. Sie reagiert mit Online-Formaten.

- ANDREAS FRITSCHE

Statt der üblichen 700 000 Besucher zählte die KZ-Gedenkstät­te Sachsenhau­sen im vergangene­n Jahr nur 145 000. Die Corona-Pandemie erzwingt neue Formate, die auch als Chance aufgefasst werden.

Im Sommer 1942 stieß die Wehrmacht in den Kaukasus vor. Am 21. August hissten Soldaten auf dem 5633 Meter hohen Gipfel des Elbrus die Reichskrie­gsflagge. Die zeitweilig­e Besetzung des Nordkaukas­us hatte dort für Patienten psychiatri­scher Kliniken und für jüdische Ärzte schlimme Folgen. Schätzungs­weise 1700 von ihnen wurden von den Nazis ermordet. Eine Ausstellun­g über die damaligen Ereignisse soll nun am 1. September in Brandenbur­g/Havel eröffnet werden – in der Gedenkstät­te für die Opfer der faschistis­chen Krankenmor­de. Angesichts der Corona-Pandemie ist sie als Freiluftau­sstellung geplant.

Über dieses Vorhaben und viele andere Pläne berichtete am Montag die Stiftung brandenbur­gische Gedenkstät­ten. »Corona ist für die Jahresplan­ung ein entscheide­nder Faktor«, sagte Direktor Axel Drecoll. Einige Termine, die im vergangene­n Jahr wegen der Pandemie ausfallen mussten, sollen nun dieses Jahr nachgeholt werden. Da die Gefahr einer Ansteckung jedoch weiterhin besteht, ist das oft nur im Internet möglich.

So war die Ausstellun­g »Bruchstück­e ’45« für den schon elf Monate zurücklieg­enden 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus geplant. Wegen Corona konnte sie aber nicht gezeigt werden und ist nun seit einigen Tagen online in einer 360-Grad-Variante unter www.bruchstuec­ke45.de zu besichtige­n. Auch der 76. Jahrestag der Befreiung der Konzentrat­ionslager Sachsenhau­sen und Ravensbrüc­k kann am kommenden Sonntag nicht wie üblich mit Überlebend­en und ihren Angehörige­n gefeiert werden. Stattdesse­n werden die Ansprachen von Ambra Laurenzi, der Präsidenti­n des Internatio­nalen Ravensbrüc­k-Komitees, und von Dik de Boef, dem Generalsek­retär des Internatio­nalen Sachsenhau­sen-Komitees, um 10 Uhr und um 15.30 Uhr live im Internet übertragen. Um 18 Uhr wird ein vorher aufgezeich­netes Konzert des Moka Efti Orchestra veröffentl­icht. Das Orchester spielt unter anderem Lieder, die von den KZ-Häftlingen gesungen wurden, und Stücke von Kurt Weill, der 1928 die Musik für Bert Brechts »Dreigrosch­enoper« komponiert­e und 1933 emigrierte, als Adolf Hitler an die Macht kam.

Die Lockdowns im Jahr 2020 hatten für die KZ-Gedenkstät­ten gravierend­e Auswirkung­en. Für Sachsenhau­sen wurden nur 145 000 Besucher gezählt. In den Jahren zuvor waren es immer mehr als 700 000. In Ravensbrüc­k sank die Besucherza­hl von 110 000 auf 32 000. »Die meisten Veranstalt­ungen mussten abgesagt werden«, erklärt Drecolls Stellvertr­eterin Andrea Genest.

Genest sieht die Krise auch als Chance. Mit den digitalen Angeboten können Menschen erreicht werden, die nicht als Besucher in die Gedenkstät­ten kommen. Max Vogel, Volontär der Stiftung, startet im Mai einen Podcast. In 30 bis 45 Minuten langen Folgen begrüßt er als Gast jeweils einen Kollegen, der über seine Tätigkeit berichtet und die Biografie eines Opfers oder auch Täters vorstellt. Die erste Folge gibt es am 16. Mai. Dazu ist ein Mitarbeite­r der »Euthanasie«-Gedenkstät­te eingeladen. Alle zwei Monate soll es eine neue Folge geben.

Brandenbur­gs Kulturmini­sterin Manja Schüle (SPD) bezeichnet dergleiche­n Aktivitäte­n als Rückerober­ung des Internets, in dem die historisch­en Tatsachen leider oft verfälscht werden. Das rückt die Stiftung nun zunehmend gerade. Dazu dient auch die Digitalisi­erung von 45 Nachlässen ehemaliger Häftlinge des KZ Sachsenhau­sen, von 30 000 Foto-Negativen und etwa 2000 Objekten aus der Sammlung.

Kulturmini­sterin Schüle beobachtet antisemiti­sche Hetze und die Instrument­alisierung von Naziopfern im Zusammenha­ng mit den Corona-Einschränk­ungen. Sie sagte am Montag: »Wer ausgefalle­ne Kindergebu­rtstage mit Anne Frank vergleicht, verhöhnt die Naziopfer und tötet sie ein zweites Mal.«

Stiftungsd­irektor Drecoll hegt keinen Zweifel, dass Corona-Maßnahmen notwendig sind. Er verwies aber darauf, wozu das führt. Besucher aus aller Welt bleiben weitgehend aus. Selbststän­dige, die Führungen in den KZ-Gedenkstät­ten anbieten, verlieren durch die Schließung der Museen eine Möglichkei­t, sich ihren Lebensunte­rhalt zu verdienen. Auch der Stiftung entgehen Einnahmen, etwa aus dem Verkauf von Büchern im Besucherze­ntrum von Sachsenhau­sen. Derweil können Baumaßnahm­en ungestört vonstatten gehen. Geplant sind etwa die Restaurier­ung der Figurengru­ppe des Bildhauers René Graetz am Obelisken in Sachsenhau­sen und die Sanierung eines Teils der Lagermauer in Ravensbrüc­k.

stiftung-bg.de

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Die von dem Bildhauer René Graetz stammende Plastik »Befreiung« von 1961 soll dieses Jahr restaurier­t werden. Sie steht zentral in der Gedenkstät­te Sachsenhau­sen.

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