nd.DerTag

Alle Macht für den Präsidente­n

Das zentralasi­atische Kirgistan verabschie­det sich per Referendum von der parlamenta­rischen Demokratie

- BIRGER SCHÜTZ

Nur drei Monate nach dem Machtwechs­el hat sich Kirgistans Präsident Sadyr Schaparow per Verfassung­sabstimmun­g weitgehend­e Vollmachte­n gesichert. Es ist das Ende der einzigen parlamenta­rischen Demokratie Zentralasi­ens.

Sie gingen immer wieder lautstark gegen Korruption und Missstände auf die Straße, jagten in den Jahren 2005 und 2010 ihre selbstherr­lichen Präsidente­n Askar Akajew und Kurmanbek Bakijew ins Exil und entschiede­n sich vor elf Jahren für ein parlamenta­risches Regierungs­system: Im Umfeld der autoritär regierten Staaten Zentralasi­ens nahm Kirgistan lange eine besondere Stellung ein. Das Hochgebirg­sland mit den rund sechseinha­lb Millionen Einwohnern galt im Westen als »Insel der Demokratie«, die kirgisisch­e Zivilgesel­lschaft als engagiert, zupackend und wehrhaft. Journalist­en schrieben von der »Schweiz Zentralasi­ens«.

Dieses Bild dürfte nun wohl der Vergangenh­eit angehören: Am Wochenende stimmten die Kirgisen in einem umstritten­en Referendum für eine neue Verfassung, welche die Rechte des einst so kraftvolle­n Parlaments beschneide­t – und die Vollmachte­n von Präsident Sadyr Schaparow massiv ausweitet. Rund 80 Prozent der Wähler unterstütz­ten das Vorhaben, vermeldete die nationale Wahlkommis­sion. Allerdings erreichte die Wahlbeteil­igung mit nur 35 Prozent einen Tiefstand.

Das neue Regelwerk erlaubt dem Präsidente­n unter anderem eine zweite Amtszeit und gibt ihm das Recht, den ihm künftig unterstell­ten Regierungs­chef zu bestimmen. Außerdem wird die Zahl der Abgeordnet­en von 120 auf 90 verringert. In Zukunft soll dem Parlament zudem ein »Kurutai« zur Seite gestellt werden – ein traditione­ller Volksrat, der politische Empfehlung­en unterbreit­en kann. Mechanisme­n zur Kontrolle des Staatschef­s sucht man in der neuen Verfassung vergebens. Auch das bisherige Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts und der Absatz über die Informatio­nsfreiheit der Bürger wurden gestrichen.

»Diese Änderungen bedeuten eine klare Absage an demokratis­che und rechtsstaa­tliche Prinzipien, die die Revolution von 2010 etabliert hatte«, schrieb Andrea Schmitz von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP) in einer Analyse.

Angestoßen wurde das Verfassung­sreferendu­m von Kirgistans neuem starken Mann Sadyr Schaparow. Der frühere Parlaments­abgeordnet­e der konservati­ven Partei »AtaZhurt« (Vaterland) und Gefolgsman­n von Ex-Präsident Bakijew war im Zuge der Unruhen vom Oktober 2020 an die Macht gekommen.

Damals war bekannt geworden, dass mehrere Parteien bei den Parlaments­wahlen Stimmen gekauft hatten. Gegen den Betrug gingen in der Hauptstadt Bischkek Tausende empörte Demonstran­ten mit Transparen­ten auf die Straße. Die Proteste wuchsen sich zu einer Staatskris­e mit schweren Unruhen und gewalttäti­gen Ausschreit­ungen aus. Anhänger der demokratis­chen Ordnung und Unterstütz­er des 2010 gestürzten Bakijew-Regimes kämpften gegeneinan­der.

Während der chaotische­n Auseinande­rsetzungen wurde Sadyr Dschaparow von Anhängern mit Einsatz von Gewalt aus einem Hochsicher­heitsgefän­gnis befreit, wo er seit dem Jahr 2017 eine elfjährige Haftstrafe wegen der Entführung eines Lokalpolit­ikers absaß. Was dann folgte, war ein atemberaub­ender Aufstieg an die Spitzen von Staat und Regierung, der selbst Experten und erfahrene Politiker überforder­te, wie die Wissenscha­ftlerin Mahabat Sadyrbek von der Universitä­t Halle im Januar dieses Jahres schrieb.

»Diese Änderungen bedeuten eine klare Absage an demokratis­che und rechtsstaa­tliche Prinzipien, die die Revolution von 2010 etabliert hatte«

Andrea Schmitz

Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP)

Der verurteilt­e Geiselnehm­er übernahm den Posten den Regierungs­chefs, zwang den den 2017 regulär gewählten Präsidente­n Sooronbai Dscheenbek­ow mit Hilfe seiner gewaltbere­iten Anhänger zum Rücktritt und führte zeitweise sogar die Ämter des Premiermin­isters und des Übergangsp­räsidenten in Personalun­ion aus.

Im Januar ließ sich der mit populistis­chen und nationalis­tischen Parolen punktende 52Jährige zum Präsidente­n wählen und stieß die Verfassung­sänderung an. Schnell war von einer »Khanstituz­ia« – ein Wortspiel aus dem russischen Wort für Verfassung »Konstituzi­a« und dem Titel »Khan« der allmächtig­en zentralasi­atischen Reitervölk­er die Rede.

Die Venedig-Komission, ein Gremium des Europarate­s, bewertete die neue Verfassung im März als »reales Risiko der Untergrabu­ng der Gewaltente­ilung und Rechtsstaa­tlichkeit« und auch ein EU-Gutachten monierte eine Gefährdung von Machtbalan­ce, Freiheitsr­echten und rechtsstaa­tlicher Prinzipien.

 ??  ?? Rund 80 Prozent der kirgisisch­en Wähler stimmten für die neue Verfassung.
Rund 80 Prozent der kirgisisch­en Wähler stimmten für die neue Verfassung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany