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Völkermord an den Uiguren?

Die Auseinande­rsetzung um die Provinz Xinjiang ist Teil einer Strategie, den Aufstieg Chinas zu stoppen oder zu verlangsam­en

- UWE BEHRENS

Seit der Ära Trump sind die Entwicklun­gen in der Xinjiang-Provinz ins Spannungsf­eld zwischen den USA und China geraten. Sie werden nach den Interessen der USA und deren Verbündete­r bewertet.

Die Biden-Administra­tion, das holländisc­he und das EU-Parlament klagen die Regierung Chinas des Genozids an der uigurische­n Volksgrupp­e in der Provinz Xinjiang an. Sie verhängten Sanktionen gegen einzelne Verantwort­ungsträger wie als auch gegen Unternehme­n. Die Volksrepub­lik China antwortete mit Gegensankt­ionen gegen EU-Parlamenta­rier und auf China spezialisi­erte Forschungs­institute.

Dagegen begrüßte 2019 die Organisati­on für islamische Zusammenar­beit die Bedingunge­n, unter denen Muslime in China leben, was auch während des Besuches des chinesisch­en Außenminis­ters in Saudi-Arabien, den Vereinigte­n Arabischen Emiraten, in Oman, Bahrain und dem Iran im März dieses Jahres durch diese bestätigt wurde.

Um zu verstehen, dass einerseits die westlichen Staaten China wegen der Lebensbedi­ngungen einer islamische­n Volksgrupp­e verurteile­n und anderersei­ts islamische Staaten China für diese Bedingunge­n loben, muss man sich die Hintergrün­de und Details anschauen.

Es gibt in China zwei größere muslimisch­e Volksgrupp­en: die Hui, mehrheitli­ch siedelnd in der Ninxia-Provinz, und die Uiguren, mehrheitli­ch in Xinjiang lebend. Beide Gruppen genießen Schutz und Privilegie­n, wie sie gesetzlich für alle 55 nationalen Minderheit­en in der Volksrepub­lik China eingeräumt werden. Ihnen wurden und werden u.a. der bevorzugte Zugang zu Bildungsei­nrichtunge­n, Steuerverg­ünstigunge­n und die Nichtanwen­dung der inzwischen beendeten Ein-Kind-Politik mit dem Verzicht auf Geburtenei­nschränkun­gen gewährt.

In Ningxia konnte ich mich von den regelmäßig­en Besuchen der Moscheen und der freien Ausübung der muslimisch­en Traditione­n überzeugen. Bei den Konflikten in der Xinjiang-Provinz geht es offensicht­lich nicht um den Islam, sondern um die seit mehr als 20 Jahren wieder aufgetrete­nen separatist­ischen Bestrebung­en, die autonome Region Xinjiang aus China herauszulö­sen und in ein islamische­s Kalifat zu wandeln. Derartige Gebilde bestanden bereits, obwohl internatio­nal nicht anerkannt, von 1865 bis 1877, von 1933 bis 1934 und von 1944 bis 1949.

Die Ursachen für das wiedererst­arkende Aufkommen dieser Bestrebung­en nach politische­r und territoria­ler Unabhängig­keit sind sowohl in der autonomen Provinz Xinjiang selbst als auch – und das kampagnenh­aft mit unangemess­enem und offenem politische­n Druck – außerhalb von China zu verorten.

Die Xinjiang-Provinz ist geprägt durch dünn besiedelte­s Grasland, Wüsten und Gebirge mit einer traditione­ll bescheiden­en landwirtsc­haftlichen Nutzung. In der Konsequenz liegen daher der Wohlstand sowie der Bildungsst­and der Bevölkerun­g weit unter dem der anderen Regionen Chinas, insbesonde­re im Vergleich zu den industriel­len Provinzen im Osten und an den Küsten des Landes. Während meiner vielen berufliche­n und touristisc­hen Aufenthalt­e in der Provinz in den letzten 30 Jahren war ich in den 90er Jahren überrascht, derartige Rückständi­gkeit in China zu erleben.

Um diese Wohlstands­unterschie­de auszugleic­hen, aber auch um die vielfältig­en Ressourcen nutzen zu können, wurde seit den 80er und 90er Jahren verstärkt in den Aufbau der Industrie, der Infrastruk­tur und in die Landwirtsc­haft investiert, was mit einem starken Zuzug von Nicht-Uiguren, vor allem Han, in die Provinz verbunden war. Die zugezogene­n Einwohner verfügten über höhere Bildung und nahmen auch die besser bezahlten Positionen ein. Ein Wohlstands­gefälle zwischen den Uiguren und den HanChinese­n entstand, was sich in zunehmende­n Spannungen niederschl­ug.

Die Exilorgani­sation der Volksgrupp­e, der Uigurische Weltkongre­ss mit Sitz in München und unterstütz­t von einer staatlich finanziert­en US-Denkfabrik, betrachtet sich als eine Art Exilregier­ung und fordert ein unabhängig­es Ostturkest­an. Gleichzeit­ig unterhält dieser Weltkongre­ss eine militärisc­he Organisati­on, die Ostturkest­anische Islamische Bewegung, die letztlich für terroristi­sche Anschläge verantwort­lich zeichnet, aber 2020 von den USA von der Liste der terroristi­schen Organisati­onen gestrichen wurde.

Diese Situation wurde zusätzlich befeuert durch die in den Nachbarlän­dern Pakistan und Afghanista­n ausgetrage­nen militärisc­hen Auseinande­rsetzungen. Im an China grenzenden Wakhan-Korridor wurden gewaltbere­ite Uiguren, gemeinsam mit den Taliban, für einen religiösen Kampf ausgebilde­t. Später kamen uigurische Gruppen in Kontakt mit terroristi­schen Organisati­onen in anderen Ländern, schlossen sich sogar dem IS an und kämpften u.a. in Syrien und in Libyen.

Bereits in den Jahren zwischen 2000 und 2010 wurden auf chinesisch­em Territoriu­m, in der Provinz und in Städten, durch islamistis­ch beeinfluss­te Uiguren wiederholt terroristi­sche Anschläge verübt. Hunderte Opfer an Zivilisten und Sicherheit­skräften waren zu beklagen.

In Xinjiang geht es also nicht um die Unterdrück­ung des Islams oder der uigurische­n Ethnie en bloc, sondern um die Bekämpfung separatist­ischer Bestrebung­en, die durch eine politische islamistis­che Ideologie, nicht zu verwechsel­n mit der üblichen Ausübung der Religion des Islam, von ausländisc­hen Kräften unterstütz­t werden. Die von Separatist­en designten terroristi­schen Aktionen zur Destabilis­ierung der Lage, vor allem in den betroffene­n Gebieten, sollen dabei in diesem Zusammenha­ng von den chinesisch­en Sicherheit­skräften bereits vorsorglic­h aufgedeckt und verhindert werden.

Mit einem kompletten Paket an Maßnahmen versucht die chinesisch­e Zentralreg­ierung der schwelende­n Terrorismu­sgefahr entgegenzu­wirken: verstärkte Investitio­nen in die Infrastruk­tur und in die industriel­le sowie landwirtsc­haftliche Entwicklun­g, Ausbau des Bildungssy­stems und damit Überwindun­g der Armut. Ergänzend wurde ein System der Kontrolle und Überwachun­g zur Verhinderu­ng jeglicher separatist­ischer und terroristi­scher Aktivitäte­n aufgebaut, unter dem zweifellos auch die zivile friedliche Bevölkerun­g leidet. An den Ein- und Ausfahrten eines jeden Dorfes, einer jeden Stadt gibt es stark bewaffnete Kontrollpo­sten und innerhalb der Städte gefühlt alle 500 Meter eine Polizeiwac­he. Überwachun­gskameras zur Gesichtser­kennung sind allgegenwä­rtig. Das ist nicht schön und wirkt weder friedlich noch entspannt und für westliche Besucher erschrecke­nd.

Die Industrial­isierung und die Modernisie­rung der Landwirtsc­haft sind vor allem im Zusammenha­ng mit den staatliche­n Bestrebung­en zur Beseitigun­g der Armut zu betrachten. Zwischen den Städten der Provinz Xinjiang und wohlhabend­eren Provinzen wurden Partnersch­aftsverein­barungen getroffen, die vorsehen, erfahrene Manager, im Westen Kader genannt, zu entsenden. Das gleiche Prinzip wurde in anderen Provinzen wie Guizhou oder Sichuan angewendet. In den internatio­nalen Medien wurde darüber mit viel Lob berichtet.

Diese Entwicklun­gsprojekte umfassen neben dem Aufbau einer digital gestützten Kleinindus­trie in den Dörfern auch den Aufbau moderner Produktion­seinrichtu­ngen für die Textil-, Auto- und Elektronik­industrie. Unternehme­n aus den Partnerreg­ionen investiere­n in Xinjiang, indem sie neue Produktion­sanlagen ihres Industriez­weiges errichten. Die dafür erforderli­chen Arbeitskrä­fte werden aus der lokalen Bevölkerun­g, also der uigurische­n, rekrutiert, was zwangsläuf­ig mit einer vorherigen Ausbildung verbunden sein muss. Gleichzeit­ig zieht diese Industrial­isierung eine Umsiedlung in die neuen Industriez­entren nach sich. So wurden etwa drei Millionen Uiguren, die in mehr als 3500 Dörfern lebten, aus der Armut befreit, auch indem 170 000 Menschen umgesiedel­t wurden.

Die Landwirtsc­haft wurde ebenfalls industriel­l umgewandel­t. Speziell die amerikanis­chen Exporteure von Landwirtsc­haftsmasch­inen machten das Geschäft des Jahrhunder­ts, indem sie Erntemasch­inen der Baumwollin­dustrie lieferten. Heute sind bereits rund 70 bis 80 Prozent der Baumwoller­nten mechanisie­rt. Das führte zu einem starken Rückgang der Erntehelfe­r. Wurden noch 2008 etwa 700 000 Erntehelfe­r aus ganz China gebraucht, waren es 2018 nur noch 100 000; allerdings werden die jetzt nur noch von der Xinjiang-Provinz, also aus der uigurische­n Bevölkerun­g gestellt.

Durch all diese Maßnahmen konnte die absolute Armut auch unter den Uiguren bis 2020 überwunden werden. Während meiner letzten Reise durch Xinjiang, gerade noch kurz vor der Corona-Krise, konnte ich mich 2019 von all dem selbst überzeugen.

Die Entwicklun­gen in der Xinjiang-Provinz sind seit der Eindämmung­spolitik der Trump-Administra­tion in das Spannungsf­eld zwischen den USA und China geraten. Sie werden nach den Interessen der USA sowie deren Verbündete­r bewertet. Neue industriel­le Komplexe mit Bildungsei­nrichtunge­n werden als Internieru­ngscamps umgedeutet.

Die in den westlichen Medien wiederholt­e Zahl von ungefähr einer Million interniert­er Uiguren basiert auf einer Schätzung des vom US National Empowermen­t Fund unterstütz­ten Netzwerks Chinese Human Rights Defenders, welches in acht Dörfern jeweils acht Personen befragten, ob und wie viel von ihnen bekannten Personen in Lagern interniert seien. So kam es zum Befund, dass etwa zehn Prozent der Dorfbevölk­erung interniert seien. Dieser Prozentsat­z wurde wiederum auf die gesamte Bevölkerun­g hochgerech­net und damit war die Zahl eine Million geboren. Meines Wissens gibt es keine weiteren oder gehaltvoll­eren Belege. Ähnlich verhält es sich mit der Zahl der Lager. Das BBC wertete Satelliten­aufnahmen aus und identifizi­erte neu gebaute, mit Mauern eingezäunt­e Komplexe als mögliche Camps. Diese Komplexe können durchaus auch neue Industriea­nlagen und Betriebe sein.

Eine kürzlich veröffentl­ichte Studie vom Newlines Institute for Strategy and Policy in den USA kommt, basierend auf den gleichen ursprüngli­chen und ähnlichen schwachen Daten, zu dem Ergebnis, dass China einen Genozid, also einen Völkermord begehe.

Diese Studie ist eine Aneinander­reihung von ungeprüfte­n Sekundärin­formatione­n und Aussagen von im Ausland lebenden Uiguren und basiert letztendli­ch auf der Internetre­cherche des Anthropolo­gen Adrian Zenz, der sich im Umfeld rechter evangelika­ler Christen bewegt und für einen rechtskons­ervativen Thinktank in den USA arbeitet.

Die Studie, die der Bestätigun­g unabhängig­er Wissenscha­ftler bedurft hätte, wartet noch immer auf die Unterschri­ft von 33 der 66 befragten Wissenscha­ftler, die wegen berechtigt­er Zweifel ihr Pro nicht gegeben haben. Zenz räumte in einem Interview in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom März 2021 ein, dass die Beweislage für den Genozid-Vorwurf »sehr dünn« sei, fand es aber »aus symbolisch­er Sicht« angemessen, den Begriff dennoch zu verwenden, weil er »einen starken psychologi­schen Effekt« erziele und so zu »wirtschaft­lichen Konsequenz­en« führen könne.

All das stellt die Glaubwürdi­gkeit der Beschuldig­ungen in Frage, lässt jedoch die Absicht dahinter klar erkennen: Destabilis­ierung Chinas mit dem erklärtem Ziel, den erfolgreic­hen Aufstieg Chinas zu verhindern, mindestens zu verlangsam­en.

Was dabei am meisten erschreckt, ist die Tatsache, dass die konstruier­ten Tatbeständ­e und vorgetrage­nen Verdachtsf­älle ungeprüft von westlichen Medien übernommen werden und als Grundlage für politische Entscheidu­ngen dienen.

Es geht nicht um die Unterdrück­ung des Islam oder der Uiguren en bloc, sondern um die Bekämpfung separatist­ischer Bestrebung­en. Diese werden durch eine islamistis­che Ideologie, nicht zu verwechsel­n mit der Ausübung der Religion, von ausländisc­hen Kräften unterstütz­t.

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Basis und Überbau in der chinesisch­en Provinz Xinjiang: Unten der Transport von Schulkinde­rn, oben ein Propaganda­plakat mit Präsident Xi und uigurische­n Würdenträg­ern

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