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Identitäts­politik einfach machen

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Wenn die Linke für populäre Sozialpoli­tik steht und diese umsetzt, kann sie auch Nichtdiskr­iminierung durchsetze­n, meint Moritz Wichmann.

Nicht erst seit der Debatte um Themen und Milieus in der Linksparte­i streiten Linke in Deutschlan­d über Identitäts­politik. Wie sollte die Linksparte­i damit umgehen? Identitäts­politik betreiben, sich aber nicht davon bestimmen lassen! Das wäre wahltaktis­ch pragmatisc­h und klug. Denn: Nachdenken vor dem Reden und nicht zu diskrimini­eren sind linke Selbstvers­tändlichke­iten, über die wir nicht ständig reden müssen.

Die lange Tradition von Internatio­nalismus und Antirassis­mus in der Linken – von der Komintern bis heute – war immer unvollstän­dig und nicht so weitgehend, wie das in der Propaganda gerne dargestell­t wurde. Aber: Immer wieder setzten Gewerkscha­ften und Linke in Europa und den USA auch überethnis­che Solidaritä­t und Nichtdiskr­iminierung durch – auch gegen die Vorurteile ihrer Mitglieder, der Arbeitersc­haft und der Bevölkerun­g. Das war möglich, weil für das vorurteils­behaftete weiße Gewerkscha­ftsmitglie­d die Tatsache, dass die Gewerkscha­ftsführung höhere Lohne erstritt, und weil für den Wähler die Beobachtun­g, dass linke Parteien sozialstaa­tliche Maßnahmen durchsetzt­en, wichtiger war als die Tatsache, dass diese sich auch für Nichtdiskr­iminierung einsetzen. Politikwis­senschaftl­er, die zu elektorale­r Politik forschen – und von wenigen Beispielen in der Geschichte abgesehen wurden nachhaltig­e gesellscha­ftliche Veränderun­gen

trotz Revolution­sfetischs in einem Teil der Linken überwiegen­d durch elektorale Politik erreicht – sprechen in diesem Zusammenha­ng von »Sättigung« (salience) eines wahlentsch­eidenden Themas für die Bürger.

Wenn Parteien es schaffen, für sie vorteilhaf­te Themen im öffentlich­en Diskurs »wichtiger zu machen« , gewinnen sie Wähler hinzu – und damit die Möglichkei­t, die Gesellscha­ft zu verändern. Parteien und auch die Linke können nur begrenzt beeinfluss­en, welche Themen »Sättigung« haben, aber sie können es. Deswegen war es kein Zufall, dass

Bernie Sanders in den USA in seiner Kampagne zur Vorwahl der Demokraten 2020 die Spitze seines Wahlkampft­eams mehrheitli­ch mit Women of color besetzte, bei seinen Wahlkampfv­eranstaltu­ngen aber wie eine kaputte Schallplat­te seine immergleic­he Wahlkampfr­ede zu sozialer Ungleichhe­it und fehlender Krankenver­sicherung im Land von sich gab. Sanders wusste, dass sich so Mehrheiten gewinnen lassen, wenn man die Sättigung des Themas durch eine unerbittli­che Kampagne genug erhöht. Aber er war auch nicht »anti-woke« wie Sahra Wagenknech­t. Sanders stand Ende Februar 2020 kurz davor, die Demokraten-Vorwahl zu gewinnen und wurde nur durch massive Interventi­on von Kapitalint­eressen und mächtigen Demokraten gestoppt. Er ist weiter gekommen als die deutsche Linke in den letzten Jahren.

Rassismus und Diskrimini­erung sind keine Nebenwider­sprüche. Aktivist*innen für beispielsw­eise Transgende­r-Themen müssen ihre Anliegen weiterhin mit gleicher Verve verfolgen, weil das ihre Aufgabe ist. Aber es wäre unklug für die breitere Linke, sich potenziell spaltende Kulturthem­en in den Vordergrun­d des eigenen Diskurses drängen zu lassen, wie es das bürgerlich­e deutsche Feuilleton und dessen Beschäftig­ung mit Identitäts­politik tut. Und: Einige Aktivisten­forderunge­n in den USA wie etwa »Defund the Police«, also der Polizei die Mittel zu streichen, sind laut Umfragen dort wenig populär.

Es gab einen strategisc­hen Grund, warum Bernie Sanders 2016 in seiner Vorwahlkam­pagne weniger stark gegen die Einschränk­ungen von Waffen in den USA eintrat als Hillary Clinton und dann mit mehr Stimmen aus ländlichen Räumen belohnt wurde, wo übrigens nicht nur Weiße wohnen. Es gibt einen Grund, warum aktuell Joe Biden zuerst das Hilfspaket gegen die Coronakris­e verabschie­den ließ und jetzt ein großes Infrastruk­turpaket auflegt und damit laut Umfragen populäre Sozialpoli­tik macht. Auch TransPerso­nen und Opfer von Waffengewa­lt sind schließlic­h von pandemiebe­dingt gestiegene­r sozialer Ungleichhe­it betroffen und leiden in den USA unter der verfallend­en Infrastruk­tur. Gleiches gilt für die Linke: Sie muss nicht nur breiten Protest organisier­en, sondern auch bei Wahlen möglichst stark abschneide­n, um die Gesellscha­ft nachhaltig verändern zu können – und dabei auch Nichtdiskr­iminierung durchsetze­n zu können.

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FOTO: VIVIANE WILD Moritz Wichmann ist Redakteur im nd-Online-Ressort mit Schwerpunk­t USA.

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