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Sport frei im Gefängnis

Zum Tod des Anstaltsle­iters Wolf-Dietrich Voigt – eines Visionärs in Sachen Resozialis­ierung

- VOLKMAR SCHÖNEBURG

Unter den Leitern der märkischen Justizvoll­zugsanstal­ten war Wolf-Dietrich Voigt der einzige mit einer DDR-Biografie. Er starb überrasche­nd am 7. April.

Meine erste bleibende Erinnerung an WolfDietri­ch Voigt stammt aus dem Jahr 2010. Ich war seit wenigen Wochen Brandenbur­gs Justizmini­ster und besuchte das Jugendgefä­ngnis in Wriezen. Leiter war Wolf-Dietrich Voigt. In einem langen vertraulic­hen Gespräch berichtete er mir über seine an der Resozialis­ierung der jugendlich­en Gefangenen ausgericht­eten Ideen, von den finanziell­en Grenzen und den Behinderun­gen durch die Ministeria­lbürokrati­e.

Wolf-Dietrich Voigt hatte in Jena Rechtswiss­enschaften studiert und war anschließe­nd jüngster Staatsanwa­lt beim Generalsta­atsanwalt der DDR in Berlin. Zu seinen Aufgaben zählte hier die Wiedereing­liederung aus der Haft entlassene­r Straftäter in die Betriebe. Anfang der 90er Jahre gehörte Voigt zum Aufbaustab des brandenbur­gischen Justizmini­steriums, Mitte der 90er Jahre wurde er Gefängnisd­irektor in Potsdam und in Oranienbur­g. Diese beiden Standorte wurden später aufgegeben.

Als ich 2010 in Wriezen mit ihm sprach, war er gerade von der im Justizmini­sterium für den Jugendstra­fvollzug zuständige­n Beamtin gemaßregel­t worden. Sie stammte aus dem Westen und war nicht damit einverstan­den, dass der Sportlehre­r der Anstalt die Übungsstun­de mit dem auf die Arbeitersp­ortbewegun­g zurückgehe­nden Spruch »Sport frei« eröffnete. Jener Spruch stehe im Kontext der indoktrinä­ren DDR-Vergangenh­eit, sei ideologisc­h belastet und habe daher zu unterbleib­en, so ihre Anweisung. Ich habe das stehenden Fußes rückgängig gemacht. Die Mitarbeite­rin hat mir das nie verziehen. Voigt und ich begrüßten uns jedoch von da an immer schmunzeln­d mit »Sport frei«.

Das letzte Mal traf ich Wolf-Dietrich Voigt vor gut einem Jahr. Wir diskutiert­en die Auswirkung­en der Corona-Pandemie auf den Strafvollz­ug. Ich hatte schon lange die Politik als Beruf aufgegeben, war aber trotzdem aus rechtspoli­tischen und wissenscha­ftlichen Gründen an dem Thema interessie­rt. Wir waren uns einig, dass die restriktiv­e Reaktion des Justizmini­steriums auf die Pandemie dem in Artikel 54 der Landesverf­assung verankerte­n Resozialis­ierungsans­pruch der Gefangenen widerspric­ht. Es geht dem Ministeriu­m darum, dass das Virus nicht die Mauern überwindet und Vorkommnis­se wie eine Flucht verhindert werden. Denn solche Vorkommnis­se sind für das Ministeram­t, werden sie medial skandalisi­ert, eine Bedrohung. Die Grundrecht­e der Gefangenen spielen da kaum eine Rolle. Wolf-Dietrich Voigt, mittlerwei­le Leiter der Justizvoll­zugsanstal­t Neuruppin-Wulkow, hatte eine andere Auffassung. Alle Gefangenen, bei denen es vertretbar ist, sollten in einen Langzeitau­sgang geschickt werden. In seinem Zuständigk­eitsbereic­h hat er das versucht.

Zwischen den beiden Treffen haben sich unsere Arbeitsweg­e vielfach gekreuzt. Bei der Erarbeitun­g des Justizvoll­zugsgesetz­es von 2013, das die Rechte der Gefangenen und den Resozialis­ierungsans­atz stärkt, war er ein kritischer Diskussion­spartner. Voigt, dem einzigen aktuellen Anstaltsle­iter Brandenbur­gs mit einer DDR-Biografie, ging es immer um die kreative Umsetzung des Gesetzes – etwa bei Wohngruppe­nvollzug oder Wiedereing­liederung. Nicht selten stand er dabei auf der Leitungseb­ene allein auf weiter Flur. Auch die Produktion des preisgekrö­nten Dokumentar­films »Nach Wriezen« von Daniel Abma, der drei aus dem Jugendstra­fvollzug Entlassene und ihren Lebensweg begleitet, hat Voigt unterstütz­t. Eine Podiumsdis­kussion nach einer Vorführung des Films bleibt mir mit ihrer kritischen Auseinande­rsetzung mit dem Gefängnisw­esen besonders in Erinnerung.

Am 7. April starb Wolf-Dietrich Voigt überrasche­nd im Alter von 65 Jahren.

Volkmar Schöneburg war von 2009 bis 2013 Justizmini­ster und gehörte von 2014 bis 2019 der Linksfrakt­ion im Landtag an.

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