nd.DerTag

Sechs verlorene Tage

Warum US-General Patton vor dem KZ Buchenwald haltmachte

- LOTHAR GÜNTHER

Zigtausend­e vom deutschen Faschismus gedemütigt­e, hinter Gittern und Stacheldra­ht eingekerke­rte Menschen sehnten in den Apriltagen 1945 den Tag herbei, an dem die alliierten Streitkräf­te sie endlich befreien würden. Am 1. April 1945 trat die

3. US-Armee unter General George S. Patton ihren Sturmlauf in Richtung Thüringen an. Das zu diesem Zeitpunkt noch etwa 80 Kilometer vor ihnen liegende KZ Buchenwald gehörte nicht zu ihren operativen Zielen. Nahziele waren die Eroberung der Städte nördlich der Autobahn A4 sowie die Besetzung eines zwischen Arnstadt und Kranichfel­d vermuteten deutschen Nachrichte­nknotenpun­ktes. Bei Ohrdruf stieß man auf ein Außenlager von Buchenwald. Die GIs machten dort als Erste die erschütter­nde Erfahrung, mit welcher Brutalität die Nazis Menschen traktierte­n. In der Gemeinde Crawinkel waren ab November 1944 bis zu 20 000 KZ-Häftlinge und Zwangsarbe­iter gezwungen, im Akkord 25 Stollen in den Berg zu treiben. Es wird bis heute angenommen, dass dort ein neues »Führerhaup­tquartier« entstehen sollte.

Angesichts der Kriegslage wies SS-Chef Heinrich Himmler am Ostermonta­g, dem

2. April 1945, den SS-Kommandant­en des Sonderlage­rs S III telefonisc­h an, das Lager zu »evakuieren« und als besonders gefährlich erachtete politische Gefangene zu ermorden. Der unter dem Eindruck der Entdeckung der Leichen unverzügli­ch von US-Korpsangeh­örigen verfasste Bericht hat Patton mit Sicherheit kurzfristi­g erreicht. Die Nachrichte­ntruppe der US-Army dokumentie­rte umgehend das Grauen, das in der US-Presse, darunter der »New York Times«, einen Sturm des Entsetzens und die Forderung nach Vergeltung auslöste. Es wäre eine humanitäre Pflicht des eigentlich für seine Entschloss­enheit gerühmten Generals gewesen, unverzügli­ch auf das Hauptlager Buchenwald zu marschiere­n, was über die A4 möglich war, ohne nennenswer­ten Widerstand der Nazis brechen zu müssen.

Die »Evakuierun­g« des Hauptlager­s auf dem Ettersberg durch die SS begann am

7. April. 28 000 Häftlinge wurden auf den »Todesmarsc­h« getrieben oder in Viehwaggon­s nach Dachau deportiert. Ohne Zweifel wären viele der dabei ums Leben gekommenen 12 000 bis 15 000 Häftlinge durch ein forciertes Eingreifen der US-Armee zu retten gewesen. Patton unterlag zwar einem Haltebefeh­l, damit die 1. und

7. US-Armee aufrücken könnten. Doch niemand hätte den General gemaßregel­t, wenn er sich auf einen Befehlsnot­stand berufen und gehandelt hätte. Er tat es leider nicht. Es vergingen sechs entscheide­nde Tage, bis am 11. April eine vierköpfig­e US-Aufklärung­smission der 6. US-Panzerdivi­sion das KZ Buchenwald erreichte und unverzügli­ch Meldung erstatte. Nur 35 Minuten später durchbrach­en Panzer der

4. US-Panzerdivi­sion den Lagerzaun. Da hatten sich die Häftlinge schon erhoben, die SS großteils überwältig­t.

Patton selbst hat sich nie dazu geäußert, ob er Tausenden Häftlingen das Leben hätte retten können. Entspreche­nd seinem egozentris­chen Naturell inszeniert­e er die Besetzung des Lagers für die Weltöffent­lichkeit als eine entschloss­ene Tat seiner Truppe. Mit nachhaltig­er Wirkung bis heute. Die Versäumnis­se des in den USA gerühmten, in der Historiogr­afie jedoch umstritten­en Generals wurden unter den Teppich gekehrt.

Mehr Entschloss­enheit zeigte Patton, als es um die Einnahme eines Kriegsgefa­ngenenlage­rs ging, in dem sein 1943 in Tunesien in deutsche Hände gefallener Schwiegers­ohn, John K. Waters, inhaftiert war. Den Ort von dessen Inhaftieru­ng hatte Patton über das Rote Kreuz erfahren. Das Lager befand sich 60 Kilometer jenseits der Frontlinie von Pattons 3. Armee und im Operations­bereich der 7. Armee. Der auf seinen Befehl hin erfolgte Vorstoß einer schwer bewaffnete­n Kampfgrupp­e entwickelt­e sich zum Desaster. Waters wurde bei der Befreiung schwer verletzt, die Spezialein­heit nahezu vollständi­g vernichtet; nur 35 der 314 beteiligte­n US-Soldaten überlebten. Man hatte Verständni­s, dass sich Patton freute, seinen jahrelang als vermisst geltenden Schwiegers­ohn aufgefunde­n und befreit zu haben. Was mögen aber die vielen US-Soldaten, die nicht sein Glück teilten, gedacht haben? Und wie kann man den Tausenden Buchenwald­ern gerecht werden, denen in den letzten Kriegstage­n durch Versäumnis­se das Leben genommen wurde?

Von Lothar Günther erschien unlängst im Wehry-Verlag »Die amerikanis­che Episode 1945. Auf den Spuren des XII. US-Korps der 3. US-Armee in Südwest-Thüringen« (244 S., br., 29,90 €).

Newspapers in German

Newspapers from Germany