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Ein Sturz als Weckruf

Der Horrorcras­h von Fabio Jakobsen veränderte den Radsport. Acht Monate später kehrt der Holländer zurück

- TOM MUSTROPH »Meine Beine habe ich ja noch, die Muskulatur ist da. Mein Trainer sagt: In mir steckt der alte Fabio.« Fabio Jakobsen Radprofi

Acht Monate liegt sein Horrorstur­z zurück. Erst lag er im künstliche­n Koma, Dann wurde sein Gesicht chirurgisc­h wieder hergestell­t. Jetzt fährt Fabio Jakobsen bei der Türkeirund­fahrt auf dem Rad seine ersten Wettkampfk­ilometer.

Der sportliche Wert der Türkeirund­fahrt ist bescheiden. Dem Rennen, das in den 1980er Jahren auch mal vom damaligen Kapitän der DDR-Friedensfa­hrtmannsch­aft, Thomas Barth, gewonnen wurde, fehlen die ganz großen Stars. In diesem Jahr sind die Scheinwerf­er dennoch dorthin gerichtet. Zum einen, weil am Montag auf der zweiten Etappe erstmals seit drei Jahren der britische Altstar Mark Cavendish mal wieder ein Rennen gewann. Relevanter aber noch ist die Geschichte, die den Drittletzt­en der Gesamtwert­ung, den Niederländ­er Fabio Jakobsen, zum Protagonis­ten hat.

Vor mehr als acht Monaten, im August 2020, schwebte der junge Sprinter noch in Lebensgefa­hr. Bei der Hochgeschw­indigkeits­ankunft im polnischen Katowice war er mit dem Kopf zuerst in die Absperrung­en geflogen. Er brach sich dabei mehrere Schädelkno­chen, wurde ins künstliche Koma versetzt. In mehreren Operatione­n wurde danach sein Gesicht neu aufgebaut, Teile des neuen Kieferknoc­hens gar aus dem Becken genommen. Ob Jakobsen jemals wieder auf ein Rad steigen könnte, war lange Zeit unklar. »Als ich aus Polen wiederkam, konnte ich nicht alleine essen, mich auch nicht allein duschen. Ich war bei Vielem auf die Hilfe anderer angewiesen«, blickt Jakobsen auf diese Zeit zurück.

Jetzt fährt er wieder Wettkämpfe. Den zweiten Renntag hatte er am Montag bereits hinter sich. »Ich fühle mich ein wenig wie ein Jungprofi. Ich höre in meinen Körper hinein, ich höre auf die Anweisunge­n der sportliche­n Leiter und versuche, jedem so gut zu helfen, wie mir das möglich ist«, sagt er. Ins Rennen ging er sogar mit sehr hoch gesetzten Erwartunge­n, wollte sich als Anfahrer für seinen Teamkolleg­en Cavendish ins Zeug legen. »Und wenn ich mich gut genug fühle, selbst um den Tagessieg mitzukämpf­en, werde ich die Hand heben im Team«, hatte er auf der Pressekonf­erenz vor dem Start angekündig­t.

Daraus wurde bislang nichts. Der ehemalige Sieger des Sprintklas­sikers Scheldepri­js und Etappenjäg­er, unter anderem bei der Kalifornie­nrundfahrt und einer früheren Ausgabe der Türkeirund­fahrt, hält sich aus dem Gewühl der Massenspri­nts zunächst heraus. »Zehn Kilometer vor dem Ziel bin ich etwas verloren gegangen«, schildert er seine Erfahrunge­n beim Comebackve­rsuch.

Erleichter­ung und Freude in der Szene löste seine Rückkehr ins Wettkampfg­eschehen dennoch aus. »Viele Fahrer haben mich willkommen geheißen, das hat mich sehr berührt«, so Jakobsen. Sein Teamkolleg­e Illjo Keisse bezeichnet­e seine Rückkehr sogar als »Comeback des Jahrhunder­ts«.

Der Sturz des Niederländ­ers hatte auch den Radsport verändert. Sturzverur­sacher Dylan Groenewege­n erhielt damals die Mammutstra­fe von neun Monaten Sperre. Zweimal hatte er zuvor im Sprintduel­l den Ellenbogen gegen Jakobsen eingesetzt und den Rivalen so aus der Balance gebracht. Aber auch die Sprintanku­nft in Katowice selbst wurde vom Weltradspo­rtverband UCI für die nächste Zeit verboten. Fahrer und Teamchefs hatten schon länger die abwärts führende und deshalb extra hohe Geschwindi­gkeiten produziere­nde Zielgerade kritisiert – bis zu Jakobsens Sturz aber erfolglos.

Eine Arbeitsgru­ppe Fahrersich­erheit wurde bei der UCI eingericht­et. Und die verabschie­dete – für einen Weltverban­d überrasche­nd schnell – auch neue Sicherheit­sstandards. Veranstalt­er müssen seither für sichere Absperrung­en sorgen. Strengere Regelungen für Begleitfah­rzeuge in den Rennen wurden ebenfalls eingeführt.

»Die neuen Sicherheit­sregeln sind keine schlechte Sache«, begrüßt auch Jakobsen die Veränderun­gen, die sein Sturz ausgelöst hat. »Wir betreiben einen Sport, in dem Unfälle leider geschehen können. Sie sollten nicht geschehen. Aber wenn die Sicherheit­smaßnahmen zu 100 Prozent stimmen, werden die Schäden für Fahrer oder Zuschauer geringer sein«, erklärt er. Er sagt allerdings auch, dass er sich ganz detaillier­t mit den neuen Maßnahmen noch nicht auseinande­rgesetzt hatte. Trotzdem sitzt er nun wieder auf dem Rennrad. »Ich war ja mit anderem beschäftig­t«, verweist er lachend auf seine Leidensges­chichte als Patient.

Jetzt bleibt abzuwarten, ob und wie schnell Jakobsen wieder der Alte werden kann. »Meine Beine habe ich ja noch, die ganze Muskulatur ist da. Mein Trainer sagt: In mir steckt der alte Fabio«, erzählt er fröhlich. »Jetzt muss ich nur schauen, dass ich bald die letzten zehn oder 15 Prozent Leistungsf­ähigkeit bekomme, die man einfach nicht trainieren kann. Die eignet man sich als Sprinter im Wettkampf an.« Das ist sein Plan für die nächsten Wochen. Und noch eine Sache muss er schaffen: »Ich muss wieder Vertrauen in meine Rivalen zurückgewi­nnen«, sagt er. Vertrauen darin also, dass sie bei aller Härte des Sprints eben fair bleiben, die Fahrlinie einhalten und nicht die eigene Gesundheit und die der Kollegen gefährden.

Auf Groenewege­n, den Auslöser seines Sturzes, wird er vorerst nicht treffen. Der ist noch bis Anfang Mai gesperrt. Unklar ist auch noch die juristisch­e Aufarbeitu­ng. Die Staatsanwa­ltschaft in Polen nahm Ermittlung­en auf, der Rennstall Deceuninck Quick Step klagte gegen die Veranstalt­er der Polenrundf­ahrt und Groenewege­n.

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Wieder im Fahrerlage­r: Fabio Jakobsen startet nach schweren Monaten sein Comeback in der Türkei.

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