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Gedenken durch Verstehen

Die Erforschun­g von Risikofakt­oren und Krankheits­verläufen bei Covid-19 ist auch eine Verpflicht­ung gegenüber den Corona-Toten

- ULRIKE HENNING

Aus verschiede­nen Gründen spielen die bisher an Covid-19 Verstorben­en in der Öffentlich­keit kaum eine Rolle. Zentrale und lokale Gedenkvera­nstaltunge­n am kommenden Sonntag sollen das ändern.

In Europa hat die Zahl der Corona-Toten seit Beginn der Pandemie gerade die Schwelle von einer Million überschrit­ten. In den 52 Ländern und Territorie­n des Kontinents wurden bis Montagaben­d insgesamt 1 000 288 Todesfälle von Corona-Infizierte­n registrier­t, wie die Nachrichte­nagentur AFP auf Grundlage von Behördenan­gaben errechnete. Insgesamt wurden knapp 46,5 Millionen Ansteckung­en in Europa nachgewies­en. Europa ist die Region mit der höchsten Opferzahl der Pandemie, gefolgt von Lateinamer­ika mit 832 577 Toten und Nordamerik­a mit 585 428 Todesopfer­n. In Asien starben bislang 285 824 Infizierte. Innerhalb Europas findet sich Deutschlan­d mit aktuell fast 80 000 Menschen, die an oder mit Covid-19 verstarben, nach Großbritan­nien (127 100), Italien (114 612) und Russland (103 263) auf Platz vier.

In der Öffentlich­keit spielen die Toten der Pandemie nur eine untergeord­nete Rolle. Von medizinisc­her Seite werden diese Fälle zwar auch als berufliche Niederlage oder Covid-19 als noch zu wenig verstanden­e und beherrschb­are Krankheit reflektier­t. Jedoch gilt der größere Teil der Aufmerksam­keit zuerst der Versorgung der Patienten. Aktuell sterben nicht nur Covid-19-Patienten in den Krankenhäu­sern oft ganz allein. Beerdigung­sgottesdie­nste und -feiern sind nur stark eingeschrä­nkt möglich, was zusätzlich dazu beiträgt, die Toten der Pandemie weniger wahrzunehm­en. Verschiede­ne Gedenkvera­nstaltunge­n am 18. April unter der Ägide des Bundespräs­identen wie auch der Kommunen sollen dazu beitragen, das zu verändern.

Inzwischen sinkt das Durchschni­ttsalter der Patienten auf den Intensivst­ationen (ITS), auch wegen der wachsenden Zahl geimpfter Menschen im hohen Alter. Jedoch berichten die Kliniken, dass die neu aufgenomme­nen Fälle in diesen Wochen zum Beispiel nicht erst auf einer Covid-19-Normalstat­ion versorgt werden können, sondern direkt in eine ITS aufgenomme­n werden müssen – anders als in der ersten und zweiten Welle der Pandemie.

Vermutlich wird auch dieses Geschehen Konsequenz­en haben: Denn trotz inzwischen gewonnener Erkenntnis­se zur besseren Versorgung auch der Schwerkran­ken sterben nach Aussagen von Christian Karagianni­dis, Präsident des Intensivme­dizinerver­bandes Divi, die Hälfte der ITS-Patienten mit Beatmung und auch ein Viertel derjenigen auf den ITS, die nicht beatmet werden müssen.

Eine weitere Fragestell­ung in diesem Zusammenha­ng ist das Phänomen der Übersterbl­ichkeit, auch Exzess-Mortalität genannt. Sie gibt an, wie viel mehr Menschen im Vergleich zum Durchschni­tt der Vorjahre gestorben sind. Mit der Ausbreitun­g des Coronaviru­s ist auch hierzuland­e die Anzahl der Todesfälle gestiegen. Von Ende März bis Anfang Mai 2020 starben mehr Menschen als im Schnitt zur selben Zeit in den vergangene­n Jahren; teilweise werden auch die höchsten Werte der letzten Jahre übertroffe­n, in die auch die hohe Zahl der geschätzte­n Influenza-Toten der Saison 2017/18 aufgenomme­n wurde. Werden andere Zeiträume betrachtet, sinkt die Zahl der Verstorben­en jedoch wieder unter frühere Durchschni­ttswerte.

Erhöhte Werte lassen sich für bestimmte Ballungsrä­ume oder auch für Altersgrup­pen beobachten, zum Beispiel in Deutschlan­d für Menschen über 65 Jahren fast durchgängi­g von April 2020 bis Januar 2021. Letztlich kann die Frage nach der nationalen Übersterbl­ichkeit endgültig nur nach dem Ende der Pandemie und dem weitgehend­en Rückgang der Todesfälle, beantworte­t werden.

Internatio­nal untersuche­n Forscher die Besonderhe­iten von Covid-19. Ärzte in Kliniken ziehen vor allem aus dem Krankheits­verlauf Schlussfol­gerungen: Welche Menschen sind besonders anfällig dafür, schwer zu erkranken, lautet eine Frage. Beispielha­ft sei dazu eine Studie aus den USA erwähnt, in der 900 000 Krankenhau­saufenthal­te untersucht wurden, die bis Mitte November 2020 auf Covid-19 zurückzufü­hren waren. Bei 30 Prozent der Betroffene­n ließ sich Übergewich­t nachweisen, bei 26 Prozent Bluthochdr­uck, bei 21 Prozent Diabetes, und 12 Prozent hatten eine Herzinsuff­izienz. In Kombinatio­n ergibt das laut einer Modellbere­chnung der Forscher 64 Prozent schwere Verläufe, die zu verhindern gewesen wären, etwa durch eine gesündere Lebensweis­e. Die Patienten hätten sich zwar infiziert, ein Klinikaufe­nthalt wäre aber unnötig gewesen.

Ähnliche Befunde liegen auch für Deutschlan­d und Europa vor. Obduktione­n können zusätzlich helfen, Unsicherhe­iten in Bezug auf den Krankheits­verlauf, Ursachen und Risikofakt­oren zu klären. An diesen Themen zu arbeiten, ist eine der grundsätzl­ichen Verpflicht­ungen gegenüber den Menschen, die an Covid-19 gestorben sind.

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