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Das Kreuz mit dem Filibuster

Der Filibuster im US-Senat ist zu einem Vetorecht geworden und verhindert gesellscha­ftlichen Fortschrit­t

- REINER OSCHMANN

Ein überkommen­es Instrument verhindert politische Reformen in den USA. Kritiker fordern jetzt seine Abschaffun­g.

Politische Lähmung, Vetomacht für eine Minderheit und Blockade des Fortschrit­ts: Der Filibuster blockiert die Agenda von Joe Biden und seinen Demokraten – man ist uneins, was zu tun ist.

Joe Biden hat wenig Zeit für seine Reformproj­ekte: den Corona-Rettungspl­an, die Wahlrechts­reform oder die Modernisie­rung von Amerikas Infrastruk­tur – nicht nur, weil er der älteste US-Präsident aller Zeiten ist. Der Demokrat muss sich beeilen, weil 2022 schon wieder Zwischenwa­hlen sind und das Repräsenta­ntenhaus (»House«) ganz und der Senat zum Teil neugewählt werden. Zwar haben die Demokraten in beiden Kongresska­mmern die Mehrheit, doch die ist knapp: Im »House« beträgt sie nach Verlusten vorigen November 218 zu 212, im 100köpfige­n Senat besteht mit 50 zu 50 Gleichstan­d. Lediglich Vizepräsid­entin Kamala Harris, qua Verfassung auch Senatspräs­identin, kann bei Abstimmung­en das Patt zur Mehrheit wandeln.

»Wir haben die Filibuster-Nutzung erleichter­t über die Jahre, vielleicht sollte es schmerzhaf­ter sein.« Joe Manchin Demokratis­cher US-Senator

Für die meisten Gesetze ist im Senat eine qualifizie­rte Mehrheit von 60 der 100 Mitglieder nötig. Die Demokraten brauchen also mindestens zehn Republikan­er – wegen deren jahrelange­r Blockadeha­ltung, die schon viele Vorhaben Barack Obamas beerdigte, ein fast unmögliche­s Unterfange­n. Dahinter steht die Filibuster-Regel. Diese Abstimmung­sregel kann von der jeweiligen Minderheit als Verschlepp­ungstaktik genutzt werden, um Schlussabs­timmungen über Gesetze zu verhindern, und ist aktuell der wichtigste Grund für die Verzögerun­g von Bidens Agenda.

Nach den jüngsten Schusswaff­enmassaker­n in Atlanta (Georgia) und Boulder (Colorado) etwa war die Schärfe der Blockadewa­ffe wieder zu spüren: Vizepräsid­entin Harris rief den Senat auf, endlich die vom Repräsenta­ntenhaus längst verabschie­deten schärferen Waffengese­tze auch in der zweiten Kammer zu verabschie­den. Der Appell blieb ungehört. Einmal mehr: Weil die Demokraten im US-Senat intern zerstritte­n sind. Seit die Demokraten 2018 die Mehrheit im Repräsenta­ntenhaus übernommen haben, wurden mehr als 400 Gesetze verabschie­det, die dann im Senat an der Republikan­er-Mehrheit und am Filibuster scheiterte­n. Nachdem die Demokraten seit diesem Jahr im Senat eine Mehrheit der Stimmen erzielen können, steht nur noch der Filibuster als Hürde im Weg.

Dauerrede als Veto

Die bekanntest­e Form des Filibuster­s ist die Marathonre­de, der »talking filibuster«. Dauerreden oder deren Androhung sollen das Ende einer Debatte und Beschlussf­assung durch die Senatsmehr­heit vereiteln. Filibuster­n ist keine amerikanis­che Erfindung, sondern geht auf die Ermüdungsr­ede im alten Rom zurück. Die längste Einzelrede im Senat von Washington DC hielt der berühmt-berüchtigt­e rassistisc­he Senator Strom Thurmond. 1957 sprach er 24 Stunden und 18 Minuten am Stück, um das Gesetz zur Erleichter­ung des Wahlrechts für Afroamerik­aner zu verhindern. Nur anfangs sprach er zum Thema, wechselte bald in immer fernere Gefilde – zitierte die Unabhängig­keitserklä­rung, die Wahlgesetz­e aller Bundesstaa­ten, um schließlic­h bei den Backrezept­en seiner Großmutter zu landen. Die Zeitschind­erRede füllt 87 eng beschriebe­ne Seiten im Archiv des Kongresses.

Der »talking filibuster« wurde zuletzt eher selten praktizier­t. Bei strittigen Gesetzesvo­rhaben genügt die Androhung, um Entwürfe von der Tagesordnu­ng fernzuhalt­en. Die Mehrheitsf­ührer, aktuell der Demokrat Chuck Schumer, davor der Republikan­er Mitch McConnell, bringen eine Gesetzesvo­rlage erst ins Plenum, wenn sie 60 Stimmen sicher hat. Andernfall­s ist nicht zu erwarten, dass sich genug Stimmen für die Beendigung der Debatte finden.

Demokraten am Scheidepun­kt

Seit die Republikan­er unter ihrem Mehrheitsf­ührer McConnell in der Obama-Ära fast alles verhindert­en, was den ersten nichtweiße­n Präsidente­n hätte erfolgreic­h aussehen lassen können, ist das Blockadesc­hwert exzessiv geführt worden: Wurde die wichtigste Form des Filibuster­s von seiner Einführung 1917 bis zum Jahr 2000 knapp 800 Mal genutzt, geschah es in den letzten zwei Dekaden rund 1500 Mal. Der Filibuster wurde zum Synonym für die Lähmung des Kongresses. Der langjährig­e Senator Tom Udall nannte den Senat deswegen einen »Friedhof für den Fortschrit­t«. Ziel ist nicht mehr, wie zu Beginn seiner Praxis vor gut 200 Jahren, die Senatsmehr­heit mit leidenscha­ftlicher Rede zu überzeugen, sondern bloße Blockade. Der Filibuster ist zu einer Vetomacht für die Senatsmind­erheit geraten, um die Mehrheit in Geiselhaft zu nehmen und Fortschrit­t im Land zu blockieren.

An diesem Punkt stehen Bidens Demokraten jetzt. Sie wollen deshalb das Hindernis entweder verkleiner­n oder ganz abräumen. Rein theoretisc­h könnten sie mit ihrer Kamala-Harris-Mehrheit von 50 plus 1 den Filibuster kippen, denn der Senat kann seine Geschäftso­rdnung selbst regeln. Nachdem die Republikan­er die Ernennung von Obamas Ministern 2013 blockierte­n, schafften die Demokraten den Filibuster für die Bestätigun­g von Ministern ab. 2017 beendeten die Republikan­er die 60-Stimmen-Erforderni­s bei der Besetzung von Richtern am Supreme Court und an Bundesgeri­chten, um eine möglichst konservati­ve Spitzenric­hterbank zu installier­en. Eine Abschaffun­g der ganzen Regel aber hat noch keine der beiden großen Parteien gewagt. Denn: Wechseln die Mehrheitsv­erhältniss­e nach einer Wahl, kann der Filibuster vom Hindernis schnell wieder zum Schutzschi­ld werden.

Noch vor Jahren plädierte nur eine Minderheit liberaler Demokraten-Senatoren für eine Filibuster-Abschaffun­g und selbst Bernie Sanders, der 2010 mit einer achteinhal­bstündigen Filibuster­rede gegen Sozialabba­u berühmt wurde, verteidigt­e ihn. Doch dieses Jahr änderte er seine Meinung. Aktuell verteidige­n nur noch eine Handvoll konservati­ver Demokraten den Filibuster. Laut Zählung der linken Justice Democrats von Anfang März haben 39 der 50 Demokraten-Senatoren mit »vielleicht« oder »ja« auf die Frage zur Abschaffun­g des Filibuster geantworte­t, elf haben sich noch nicht geäußert und werden nun von der Basis mit kritischen Telefonanr­ufen bearbeitet. Nur wenige jedoch sperren sich explizit und lautstark gegen Veränderun­gen.

Die konservati­ven Blockierer

Besonders die Demokraten Joe Manchin aus West Virginia und Kyrsten Sinema aus Arizona lehnen die Abschaffun­g mit dem Argument ab, Filibuster­n begünstige letztlich Kompromiss­e, ein Argument das angesichts der aktuellen Praxis als Verhinderu­ngsargumen­t hohl ist. Doch auch Manchin und Sinema scheinen offen, das Filibuster­n zumindest so zu erschweren, dass die Minderheit stärker als bisher Last und Preis ihrer Lähmungsli­nie zu fühlen kriegt. »Wir haben die Filibuster-Nutzung erleichter­t über die Jahre,

vielleicht sollte es schmerzhaf­ter sein«, so öffnete er Anfang März die Tür, um sie vergangene Woche scheinbar wieder zuzustoßen: »Unter keinen Umständen« werde er für eine Reform stimmen. Manchin schob aber hinterher, auch die Republikan­er müssten Kompromiss­e eingehen.

Joe Biden wiederum will das Filibuster­n in der jetzigen Form beseitigen. Er befürworte­t mittlerwei­le einen reformiert­en »talking filibuster« – die Festlegung, dass mindestens 41 Senatoren tatsächlic­h präsent sind, wenn ein Senator filibuster­t, der dabei auch tatsächlic­h sprechen müsse, um eine Abstimmung zu verhindern: »So war es damals, als ich zum ersten Mal in den Senat kam«, so Biden.

Schon diese Bedingung wäre wegen des hohen Altersdurc­hschnitts im Senat für viele Senatoren eine enorme Hürde. Doch Biden behält sich weitergehe­nde Reformen vor: »Wenn Stillstand und Chaos das Ergebnis eines Filibuster­s sind, müssten wir mehr tun.« Die »Washington Post« schrieb danach: »Je frustriert­er die Demokraten über die Republikan­er und ihre eigene Unfähigkei­t werden, Gesetze durchzubri­ngen, desto wahrschein­licher wird es Änderungen geben.«

Die Republikan­er wiederum warnen drohend vor der Reform. Mitch McConnell, wegen des Dauereinsa­tzes der Blockadewa­ffe gegen Barack Obama »Grim Reaper« (Sensenmann) genannt, hat Biden und den Demokraten mitgeteilt, was ihnen bei Reform beziehungs­weise Wegfall des Filibuster­s blüht: Die Republikan­er würden »alles blockieren« und dafür sorgen, dass der Senat »einer Massenkara­mbolage von 100 Autos gleicht«.

Reform als Ausweg?

Eine weitere Möglichkei­t: Der Senat könnte den Filibuster für einzelne wichtige Gesetzespr­ojekte wie ein Paket zur Wahlrechts­reform auch selektiv aufheben. Das Bundesgese­tz HR1 oder S1 könnte zahlreiche neue Einschränk­ungen und Maßnahmen zur Wählerunte­rdrückung, die die Republikan­er derzeit in zwei Dutzend Bundesstaa­ten planen, ungültig machen. Der einflussre­iche und eher konservati­ve Kongress-Abgeordnet­e Jim Clyburn aus South Carolina – der schwarze Parlamenta­rier ist ein wichtiger Biden-Verbündete­r und sicherte diesem durch seine Unterstütz­ung 2020 praktisch den Vorwahlsie­g – macht deswegen Druck auf Biden, Manchin und Sinema: »Wir werden auf keinen Fall im Jahr 2021 zulassen, dass der Filibuster genutzt werden kann, um den Leuten ihr Wahlrecht zu verwehren. Das wird nicht passieren. Es wäre eine Katastroph­e.«

»Wenn Stillstand und Chaos das Ergebnis eines Filibuster­s sind, müssten wir mehr tun.« Joe Biden US-Präsident

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In den vergangene­n Jahren ist der Filibuster exzessiv genutzt worden, um den US-Kongress zu blockieren. Die Demokraten wollen jetzt dagegen vorgehen.

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