nd.DerTag

»Wir können nicht zurück«

Das Recht auf Asyl bleibt den Migranten an Mexikos Nordgrenze auch unter US-Präsident Biden verwehrt

- KATHRIN ZEISKE, CIUDAD JUÁREZ

US-Präsident Joe Biden wollte der NullTolera­nz-Politik seines Vorgängers Donald Trump an der Grenze zum Nachbarlan­d Mexiko ein Ende setzen. Doch das Recht auf Asyl bleibt weiter ausgesetzt.

Jeden Tag packt Melissa* erneut die Rucksäcke der Kleinfamil­ie und schiebt sie unter das Etagenbett im Schlafsaal. Dann faltet sie die blau karierten Filzdecken zusammen und geht in die riesige Wohnküche der Migrantenh­erberge hinunter. Einige Frauen bereiten das Frühstück zu, während eine Gruppe Kinder vor Freude quietschen­d Luftballon­s hinterherr­ennt. Auch wenn sich die Tage in die Länge ziehen, ist die junge Frau aus Honduras guter Dinge. »Jetzt haben wir schon so lange gewartet, da sind ein paar Wochen mehr auch noch zu verkraften.«

Melissa und ihre Familie zählen zu den 71 000 Asylanwärt­er*innen für die USA, die Ex-Präsident Donald Trump auf eine Warteliste in Mexiko setzen ließ, anstatt sie ins Land zu lassen. Unter dem irreführen­den Titel »Migrant Protection Protocols« (MPPs) lagerte eines der mächtigste­n Länder der Welt im Januar 2019 das Asylrecht ins Nachbarlan­d aus – ein Recht, das seit 1948 in der Menschenre­chtscharta der Vereinten Nationen verankert ist.

1-9-0-5-3. Melissa kennt ihre Nummer auf der Warteliste auswendig. Seit eineinhalb Jahren stehen die fünf Ziffern für all ihre Hoffung, in den USA Asyl zu erlangen. Eineinhalb Jahre Warten. In einer Herberge in Ciudad Juárez, einer unwirtlich­en und gewaltgepl­agten Grenzstadt mitten auf dem Kontinent. Ihr Häusermeer erstreckt sich im Westen und Süden unendlich in die Wüste hinein. Im Nordwesten wird die Stadt von den rostbraune­n Streben der Mauer begrenzt, die mit Suchschein­werfern, Bewegungsm­eldern, Infrarotka­meras und Drohnen die hochmilita­risiertest­e Grenze der Welt bildet. Vom Schlafsaal im Obergescho­ss der Migrantenh­erberge aus kann Melissa direkt auf die in der Sonne glänzenden Bankgebäud­e von Downtown El Paso blicken. Davor führt eine Autobahnbr­ücke zur Technische­n Universitä­t, die im tibetische­n Stil in die Berghänge gebaut ist. Texas ist nur einen Katzenspru­ng entfernt und doch all diese Zeit unerreichb­ar geblieben.

»Zwar wurden wir im Dezember 2019 in die USA geleitet – doch nur um fünf Tage lang in Haft zu verbringen.« Dann wurde ihnen gesagt, dass sie ihren Asylprozes­s von Mexiko aus führen müssten. Melissa und ihre Familie ließen keinen Termin auf der Grenzbrück­e aus. »Bis die Pandemie begann.« Die Vorladunge­n vor einen Richter wurden Monate verschoben. Ab August 2020 gab es keine mehr. Die aus dem Amt scheidende Regierung Trump nahm die Coronakris­e gerne zum Vorwand, um das Asylrecht außer Kraft zu setzen. Der neue Präsident Joe Biden hob bei Amtsantrit­t medienträc­htig mehrere migrations­politische Verordnung­en der Vorgängerr­egierung Trump auf, der auf null Toleranz an der Grenze gesetzt hatte. So auch die MPPs.

Ein Tag, an den sich Melissa und ihr Mann noch genau erinnern. »Wir lagen uns in den Armen und sahen endlich wieder eine Zukunft.« Denn in den langen Monaten des Wartens stand eines für sie nie zur Debatte: die Rückkehr nach Honduras. »Wir können nicht zurück.« Melissas Stimme wird plötzlich ganz leise und ihr Blick schweift unruhig durch den Essenssaal der Herberge. Sie erzählt, dass ihr Mann Busfahrer eines Transportu­nternehmen­s in der Küstenstad­t La Ceiba gewesen sei. Ein guter Job, mit dem die junge Familie über die Runden kam. Doch dann begannen Angehörige der Jugendband­en die berüchtigt­e »Kriegssteu­er« zu erpressen: die Geißel der arbeitende­n Bevölkerun­g in dem kleinen mittelamer­ikanischen Land, das zu den ärmsten der Region zählt.

Als die geforderte Summe astronomis­che Ausmaße erreichte, blieb der Familie nur noch, ihre Koffer zu packen und die gefährlich­e Reise Richtung Norden anzutreten, um dem Dunstkreis der »Maras« zu entkommen. »Die wahren Herrscher von Honduras sind die Jugendband­en und die Drogenkart­elle, diese regieren unsere Länder.« Vor New Yorker Gerichten sprachen festgenomm­ene Drogenboss­e dieser Tage erneut von einer einvernehm­lichen Zusammenar­beit mit dem amtierende­n honduranis­chen Präsidente­n Juan Orlando Hernández. Als eines der ersten Länder hatten die Vereinigte­n Staaten ihn in seinem Amt anerkannt, als er 2013 offensicht­lich durch Wahlbetrug an die Macht gelangte. In den USA zählt Bandengewa­lt ebenso wenig wie häusliche Gewalt oder die Zerstörung der Lebensgrun­dlagen durch die in Mittelamer­ika längst eingesetzt­e Klimakatas­trophe als anerkannte­r Fluchtgrun­d.

Doch Melissa ist zuversicht­lich. »Wir wollen nur in Sicherheit leben. Alles andere wird sich finden.« Eine Schwester in North Carolina erwartet sie. Zu Beginn hatte sie den nach Norden Fliehenden noch Geld schicken können. Doch mit der einsetzend­en Pandemie gab es weder in den USA noch in Mexiko Arbeit. »Gott sei Dank hatten wir ein Dach über dem Kopf und zu essen«, seufzt Melissa. Fast 42 000 Geflüchtet­en blieb in dieser Zeit angesichts von Hunger, Lockdown und Pandemie nichts anderes übrig, als zurückzuke­hren. Nur noch 15 000 sind es, die in den mexikanisc­hen Grenzstädt­en durchgehal­ten haben. Menschenre­chtsorgani­sationen sprechen sogar von »Überlebend­en der MPPs«. Jetzt kann jeden Tag der Anruf kommen, der sie zur Grenzbrück­e beordert. Melissa strahlt und zieht ihren kleinen Sohn an sich.

Auf dem höchsten Punkt der Grenzbrück­e Santa Fe flattern die Fahnen Mexikos und der USA im Wind. Von hier aus blickt man auf den Grenzstrei­fen zwischen Ciudad Juárez, Chihuahua und El Paso, Texas, hinab, auf unbefestig­te Trassen, Maschendra­htzäune, die rostrote Mauer, auf der frisch aufgespult­er Nato-Draht glänzt, auf Graffiti gegen das Grenzregim­e der USA und einen Fluss in einem Betonkanal, der auf der einen Seite Río Bravo und auf der anderen Seite Río Grande heißt.

Auf dem höchsten Punkt der Brücke spaltet sich nun auch die Perspektiv­e auf eine hoffnungsv­olle Zukunft und das Ende der Hoffnung. Während tagtäglich Angehörige von UN-Organisati­onen in blauen Westen Geflüchtet­e für die Fortsetzun­g ihres Asylverfah­rens in die USA geleiten, schieben die kakifarben gekleidete­n Beamten der USBorder Patrol auf dem gegenüberl­iegenden Fußweg verzweifel­te Familien nach Mexiko zurück. Einem Familienva­ter aus Nicaragua stehen die Tränen in den Augen. Jaime* hat ein Kleinkind auf dem Arm, zwei Mädchen schmiegen sich an seine Seite. »Das ist wieder Mexiko? Aber sie haben mir gesagt, sie würden uns zu unseren Verwandten nach Dallas bringen ...« Allein in Ciudad Juárez sind es mindestens 100 Personen am Tag, die unter dem gesundheit­spolitisch­en »Titel 42« direkt wieder nach Mexiko zurückgesc­hoben werden. Egal welcher Nationalit­ät sie sind und ohne jegliche Möglichkei­t Asyl zu beantragen.

»Mit Joe Biden hat sich die Situation an der Grenze nur für die Allerwenig­sten geändert«, so Blanca Navarette von der Organisati­on Integrale Menschenre­chte in Aktion. »Das Recht auf Asyl bleibt weiter ausgesetzt.« Sie streicht sich müde über ihre langen schwarzen Haare. Navarette arbeitet seit 20 Jahren mit Migranten und Geflüchtet­en an der Nordgrenze Mexikos. »Doch die vergangene­n Monate sind unglaublic­h zermürbend gewesen.« Es kämen gerade sehr viele Menschen in der Stadt an. »Und alle haben sie sehr unterschie­dliche Bedürfniss­e und Nöte.« Allein zehn Prozent der Abgeschobe­nen haben sich in der Haft in den USA mit Corona infiziert. Die Herbergen sind überfüllt und gerade werden städtische Sportanlag­en in Unterkünft­e für die Abgeschobe­nen umgewandel­t. Währenddes­sen kommen täglich Hunderte Geflüchtet­e aus dem Süden neu in der Stadt an.

»Die Menschen setzen ihre Hoffnungen auf Joe Biden«, so Blanca Navarette. Ihnen sei nicht klar, dass die Grenze geschlosse­n bleibt. Die studierte Pädagogin und Sozialarbe­iterin beunruhigt vor allem die Schutzlosi­gkeit der Papierlose­n angesichts der organisier­ten Kriminalit­ät in der Stadt. Seit Ausbruch der Pandemie führen die mexikanisc­hen Grenzstädt­e Tijuana und Ciudad Juárez einmal mehr die Liste der gefährlich­sten Städte der Welt an. »Hier an der Grenze gibt es viele Entführung­en.« Geflüchtet­e glaubten, dass sie sich in die Hände von Schleusern begeben, die sie über die Grenze bringen, doch tatsächlic­h sind es den Drogenkart­ellen unterstehe­nde Banden, die sie gefangenha­lten und Geld von ihren Familien erpressen.

Unterdesse­n bleibt Asyl weiter aus. »Trump ist raus aus der Regierung, doch viele seiner Anhänger sitzen weiter auf ihren Posten.« Sie versuchten, durch Missmanage­ment eine Krise an der Grenze hervorzuru­fen. »Wir bekommen mit, dass die US-Border Patrol manchmal Geflüchtet­e wider Erwarten aufnimmt: willkürlic­h und während eines kurzen Zeitraums.« Aber das löse eine Welle klandestin­er Grenzübert­ritte aus. »Die Trumpisten setzen alles daran, um Biden anzuhängen, dass er die Situation nicht unter Kontrolle hat.«

Derweil ist Jaime, der Familienva­ter aus Nicaragua, mit seinen Kindern im städtische­n Sportzentr­um Kiki Romero angekommen. Die hier diesen Monat angesichts sinkender Coronainfe­ktionszahl­en angesetzte­n Publikumsv­eranstaltu­ngen wurden wieder abgeblasen. Nun stehen lange Essenstisc­he auf dem Basketball­feld. Die Zuschauert­ribünen vor den hellblauen Wänden wurden abgebaut und Etagenbett­en aufgebaut. Jaime sinkt auf dem ihnen zugewiesen­en Bett nieder. »Wieso sind wir wieder in Mexiko, Papa?«, fragt seine älteste Tochter. Er streichelt ihr nur still über die Wange.

*Namen von der Redaktion geändert

»Wir wollen nur in Sicherheit leben. Alles andere wird sich finden.« Melissa Migrantin aus Honduras

»Trump ist raus aus der Regierung, doch viele seiner Anhänger sitzen weiter auf ihren Posten.« Blanca Navarette Menschenre­chtsaktivi­stin

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Nach einer langen Wartezeit in Ciudad Juárez werden nun tröpfchenw­eise Asylsuchen­de in die USA gelassen.

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