nd.DerTag

»Wir verteidige­n unsere Würde«

Gabriele Winker skizziert im Kleinen beginnende Alternativ­en zur kapitalist­ischen Burnout-Gesellscha­ft

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Was verstehen Sie unter »solidarisc­her Care-Ökonomie«?

Sie stellt nicht Profitmaxi­mierung und Renditeori­entierung ins Zentrum ökonomisch­en Handelns, sondern menschlich­e Bedürfniss­e. Notwendig ist ein solcher Wechsel insbesonde­re für den gesamten CareBereic­h. Dort kann nur dann qualitativ hochwertig­e Sorgearbei­t geleistet werden, wenn mit deutlich mehr Personal auf die einzelnen Menschen eingegange­n werden kann. Dazu gehören aber auch alle weiteren notwendige­n Bereiche wie Landwirtsc­haft, Wohnungsba­u, Mobilität, Energiever­sorgung, die entspreche­nd der planetaren Grenzen ebenfalls direkt an menschlich­en Bedürfniss­en orientiert gestaltet werden. Hierfür müssen Krankenhäu­ser und Pflegeheim­e, aber auch Energie- und Autokonzer­ne den Privatunte­rnehmen entzogen und in den Besitz der Allgemeinh­eit überführt werden.

Sehen Sie die Möglichkei­t, dass im Zuge der Coronakris­e Care-Arbeit gesamtgese­llschaftli­ch aufgewerte­t wird?

Ich denke schon. Derzeit werden sich ja viele Menschen bewusster, auf was es im Leben ankommt: auf ein funktionie­rendes Gesundheit­swesen, auf sorgsame Pflege bei Krankheit oder im Alter, auf ein gutes Bildungssy­stem, insbesonde­re für Kinder und Jugendlich­e, aber auch darauf, die Klimakatas­trophe zu stoppen. Vielen wird deutlich: Statt individuel­ler Anhäufung von Vermögen sollten gesellscha­ftliche Vorsorge, reiche soziale Beziehunge­n, die auch Zeit brauchen, und der Schutz der Ökosysteme im Zentrum gesellscha­ftlichen Handelns stehen. Die Bedeutung der Care-Arbeit hierfür liegt auf der Hand.

Wo sehen Sie die Verbindung zwischen Care und Klimaschut­z, die im Untertitel Ihres neuen Buches anklingt?

Für eine lebenswert­e Zukunft ist es nicht ausreichen­d, die Arbeitsbed­ingungen für Care-Beschäftig­te und familiär Sorgearbei­tende zu verbessern. Menschen sind Teil der Natur und auf hinreichen­d intakte Ökosysteme angewiesen. Wir brauchen also nicht nur gesellscha­ftliche Bedingunge­n, die gelingende Sorgebezie­hungen überhaupt erst ermögliche­n. Wir benötigen darüber hinaus klimatisch­e Verhältnis­se, die auch den jüngeren Generation­en und den noch nicht geborenen Generation­en eine Perspektiv­e geben. Das derzeitige Wirtschaft­ssystem kann auf die Anforderun­gen für Güter und Produktion­sverfahren, die sich aus ökologisch­en Veränderun­gen ergeben, ebenso wenig angemessen reagieren wie auf die an einen menschenge­rechten Ausbau des Gesundheit­sund Bildungssy­stems.

In einem Kapitel Ihres Buches beschäftig­en Sie sich mit Erschöpfun­g und Depression als gesellscha­ftliche Phänomene. Beschreibe­n Sie damit auch Probleme politische­r Aktivist*innen?

Immer mehr Menschen leiden unter dem permanente­n Leistungsp­rinzip und der dauerhafte­n Aufgabe, sich selbst zu optimieren. Davon sind sicherlich politisch Aktivist*innen ebenfalls betroffen, zumal für sie neben berufliche­n und familiären Aufgaben auch die politische Arbeit von Bedeutung ist. Damit nimmt die zeitliche Überforder­ung häufig noch zu. Allerdings: Wer die gesellscha­ftlichen Ursachen von gegenwärti­gem Leid und Gefährdung der Zukunft erkannt hat, für den gibt es keine Alternativ­e zum Engagement. Und im Streit für eine menschlich­ere Welt verteidige­n wir zugleich auch unsere eigene Würde. Wegschauen und Wegducken geht nicht.

»Kein Ausweg im Kapitalism­us« lautet eine Kapitelübe­rschrift in Ihrem Buch. Aber wie kann er überwunden werden?

Durch radikale Verkürzung der Erwerbsarb­eit, durch Aufbau einer individuel­len und kollektive­n sozialen Unterstütz­ungsstrukt­ur, durch Demokratis­ierungspro­zesse und die Unterstütz­ung von Commons, also der Nutzung gemeinsame­r Ressourcen, sehe ich Wege in eine solidarisc­he Gesellscha­ft. In ihr ist die Trennung zwischen entlohnter und nicht entlohnter Sorgearbei­t aufgehoben.

Trotz der im Kapitalism­us herrschend­en Normen und Zwänge gibt es im Alltag viel solidarisc­hes Handeln und Widerspruc­h gegen Leistungsd­ruck und Diskrimini­erung. Häufig ist dieses Engagement noch vereinzelt oder auf konkrete Notlagen vor Ort bezogen. Aufgabe von Aktivist*innen ist es, dies zu politisier­en und eine Perspektiv­e zu geben.

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