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»Das ganze System ist schuldig wie die Hölle«

Mit Derek Chauvin wurde ein US-Polizist für rassistisc­he Polizeigew­alt verurteilt – für fast alle anderen gibt es Straffreih­eit bei Fehlverhal­ten

- MORITZ WICHMANN

Reformen der Polizeiarb­eit gibt es schon lange in den USA. Die fast vollständi­ge Straflosig­keit für Polizeigew­alt geht trotzdem weiter.

Ob es nicht so sei, dass man in den USA »Fortschrit­te« gemacht habe, fragte ein weißer Reporter einmal Malcolm X. Der Journalist war auf der Suche nach einem versöhnlic­hen Statement in Sachen Bürgerrech­te für Afroamerik­aner und zu dem, was in den Vereinigte­n Staaten auch »race-relations« genannt wird. Doch diesen Gefallen tat ihm der bekannte Schwarze Nationalis­t nicht. »Nein, nein, nein, ich werde niemals sagen, dass es hier Fortschrit­t gibt. Wenn du ein Messer neun Inch in meinen Rücken stichst und es sechs Inch rausziehst, dann ist das kein Fortschrit­t. Wenn du es ganz rausziehst, ist das noch kein Fortschrit­t. Die Wunde zu heilen, das wäre Fortschrit­t«, so der Schwarze Radikale. Auch was X dann sagte, kann als Zustandsbe­schreibung auch für die USA der Gegenwart benutzt werden. »Sie haben noch nicht einmal angefangen, das Messer rauszuzieh­en und noch viel weniger, die Wunde zu heilen, sie leugnen ja sogar die Existenz des Messers.« Das Leugnen geht auch nach dem Urteil gegen George Floyds Mörder Derek Chauvin weiter.

Die Polizeigew­erkschaft aus Minneapoli­s erklärte in einem Statement zunächst pflichtsch­uldig, man müsse ein besseres Minneapoli­s für alle schaffen, stehe mit der »Community« und strecke dieser die Hand entgegen und danke der Arbeit der Jury – so weit, so floskelhaf­t. Doch dann kam man trotzig zum eigentlich­en Punkt, es gebe beim Thema »keine Gewinner«, die »spaltenden Kommentare« zur Polizeiarb­eit müssten aufhören und das »politische Anbiedern von Politikern und die Rassenhetz­e« müssten aufhören. Dass ein solch unversöhnl­icher Geist durch die Polizeigew­erkschaft weht, ist kein Wunder, bis vor Kurzem war ihr Vorsitzend­er Bob Kroll, ein überzeugte­r Rassist, der auf Wahlkampfk­undgebunge­n von Donald Trump ging.

Die Polizeigew­erkschaft in Minneapoli­s ist kein Einzelfall, andere Polizeigew­erkschafte­n im Land agieren ähnlich reaktionär, bekämpfen selbst kleinste Veränderun­gen des Status quo der Polizeiarb­eit in den USA massiv. Seit den 1970er und 80er Jahren etwa gibt es in vielen US-Städten Polizeigew­alt-Beschwerde­stellen, doch der Druck von Polizeigew­erkschafte­n und konservati­ven Demokraten hat dafür gesorgt, dass sie lange Zeit zahnlos waren und auch jetzt vielfach noch keine echten »Zähne« oder Macht haben bei der Verfolgung von Fehlverhal­ten im Dienst.

Harte Strafen für Polizeigew­alt, auch wenn sie tödliche Folgen hat, muss jedoch fast kein Polizist in den USA fürchten. Seit 2005 wurden rund 15 000 Menschen durch Polizisten im Dienst erschossen, laut einer Studie der Bowling Green State University wurden bis 2019 aber nur 104 Polizeibea­mte wegen Totschlags oder Mordes verhaftet. Nur vier wurden wegen Mord verurteilt. Nun ist es mit Derek Chauvin einer mehr.

Rund 600 000 Polizisten in rund 12 000 lokalen Polizeibeh­örden gibt es in den USA. Laut Daten des Security Policy Reform Institute von 2019 geben Bundesstaa­ten und Gemeinden 118 Milliarden US-Dollar für Polizeiarb­eit aus – nur das chinesisch­e Militär und die US-Streitkräf­te erhalten mehr Mittel. Die Forschung kritischer Kriminolog­en und Polizeiwis­senschaftl­er dokumentie­rt eine trotz leicht steigender Diversität immer noch überwältig­end weiße und konservati­ve Polizisten­schaft mit einem Schweigeco­de – und sie zeigt, was Black-Lives-Matter-Demonstran­ten in den USA mit dieser Parole ausdrücken: »Das ganze System ist schuldig wie die Hölle«, oder wie es der Schwarze Komiker Trevor Noah letzter Woche ausdrückte: »Wo sind die guten Äpfel?« Es sei nicht so, dass es keine guten Polizisten gäbe, doch die würden die »schlechten Äpfel« nicht stoppen. Es gäbe keine Videos von »Cops«, die übergriffi­ge Polizisten stoppen würden. Weil die »guten Cops« wüssten, dass das System machtvolle­r ist.

Kommentato­ren unter dem Video von Noah verwiesen auf den Fall Cariol Horne. Die Schwarze Polizistin hatte 2006 einen Kollegen gestoppt, der ähnlich wie im Fall Floyd einen bereits in Handschell­en befindlich­en Mann in einen Würgegriff genommen hatte. Dafür wurde sie von der Polizei von Buffalo gefeuert. Zusätzlich musste sie zehn Jahre vor Gericht darum kämpfen, die ihr zustehende Rente zu erhalten; erst vergangene Woche urteilte ein Gericht dementspre­chend. »Das System ist nicht kaputt, es tut genau das, wofür es geschaffen wurde: Arme Leute nieder zu halten. Und wer ist die ärmste Gruppe in den USA? Schwarze Menschen«, so Noah. »Wir haben es nicht nur mit ein paar schlechten Äpfeln zu tun, sondern mit einem ganzen schlechten Baum, der genau die Früchte trägt, für die er gepflanzt wurde.« Es ist ein Verweis auf das, was Aktivisten und kritische Forscher »white supremacy« nennen, die Weißenvorh­errschaft und deren auch gewaltsame Sicherung auch durch die Polizei.

Der Datenanaly­st Samuel Sinyangwe macht dabei auch mit dieser Statistik darauf aufmerksam, dass es in der US-Polizeiarb­eit nur teilweise um »Sicherheit« geht. Schon in Großstädte­n wie Chicago, wo es mehr schwere Gewaltkrim­inalität in afroamerik­anischen Stadtviert­eln als in mehrheitli­ch weißen Vierteln gibt, würden Schwarze um ein vielfaches häufiger von der Polizei verhaftet als Weiße, in Seattle etwa sechs Mal so häufig. Doch gerade auf dem Land und in »hunderten« Kleinstädt­en – allgemein Orte geringerer Kriminalit­ät – gäbe es Polizeibeh­örden, die Schwarze »20, 30 oder gar 300 Mal« so häufig verhaftete­n. Mit den Worten von Malcolm X: An vielen Orten in den USA hat die Polizei noch nicht einmal begonnen, das Messer aus dem Rücken zu ziehen.

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