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Wochenlang schien der russisch-ukrainisch­e Konflikt zu eskalieren. Kehrt jetzt doch wieder Ruhe ein?

Nach einer dramatisch­en Zuspitzung scheint sich die Lage im Donbass wieder zu entspannen

- BIRGER SCHÜTZ

Wochenlang rollten die Truppentra­nsporte entlang der ukrainisch-russischen Grenze, lieferten Satelliten­bilder immer wieder neue und unberuhige­nde Bilder von riesigen Truppenans­ammlungen, zuletzt kreuzten russische Kriegsschi­ffe im Schwarzen Meer. Die Angst vor einer kriegerisc­hen Eskalation ging in Europa um, Politikwis­senschaftl­er, Journalist­en und Analysten in West und Ost zerbrachen sich die Köpfe über der Frage: Kommt es zum Krieg in der Ostukraine?

Doch so unvermitte­lt, wie der lange auf niedriger Flamme brodelnde Konflikt Mitte März hochkochte, scheint er nun wieder abzukühlen: Am Donnerstag kündigte das russische Verteidigu­ngsministe­rium in einer überrasche­nden Wendung an, seine entlang der ukrainisch­en Grenze und auf der annektiert­en Krim zusammenge­zogenen Truppen zurückzuzi­ehen. Es habe sich um eine außerplanm­äßige Übung gehandelt, verbreitet­e Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu über die Nachrichte­nagentur Ria Nowosti. Die Überprüfun­g der Gefechtsbe­reitschaft der Truppe sei nun abgeschlos­sen. »Die Streitkräf­te haben ihre Fähigkeit bewiesen, den Staat zuverlässi­g zu verteidige­n«, erklärte Schoigu. Er habe daher die Rückkehr der Einheiten in ihre Heimatbase­n angeordnet. Der Abzug solle bis zum ersten Mai abgeschlos­sen werden.

Gesprächsa­ngebot aus dem Kreml

Während politische Beobachter sich noch voller Verwunderu­ng die Augen rieben, schob der russische Präsident noch ein unerwartet­es Gesprächsa­ngebot hinterher. Er sei zu einem Treffen mit seinem ukrainisch­en Amtskolleg­en Wolodymyr Selenskyj bereit, erklärte Wladimir Putin am Donnerstag­abend – allerdings nicht wie von Selenskyj vorgeschla­gen im ukrainisch­en Donbass, sondern in der russischen Hauptstadt Moskau. »Wenn es um die Entwicklun­g der bilaterale­n Beziehunge­n geht, dann bitte«, erklärte Präsident Putin.. »Wir empfangen den Präsidente­n der Ukraine zu jeder für ihn angenehmen Zeit in Moskau.«

Die mysteriös anmutende Kehrtwende kommt vor dem Hintergrun­d einer seit der heißen Phase der Krim-Annektion 2014 nicht mehr dagewesene­n Eskalation der Spannungen. Diese verlief dabei in zwei Etappen. Zuerst war der seit dem Juli 2020 gültige Waffenstil­lstand zwischen der Ukraine und den abtrünnige­n prorussisc­hen Gebieten Donezk und Lugansk ins Bröckeln geraten. Seit Januar kam es an der sogenannte­n Kontaktlin­ie zwischen den Separatist­en und der ukrainisch­en Armee immer öfter zu massiven Kämpfen. So wurden im Februar 135 mehr Verstöße gegen die Waffenruhe gezählt als noch im Vormonat, meldete die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit (OSZE). Auch die Zahl der Opfer wuchs wieder. Auf ukrainisch­er Seite kamen seit Jahresbegi­nn mindestens 31 Soldaten in Kämpfe um. Über Verluste der Separatist­en liegen keine nachprüfba­ren Zahlen vor. Als am 26. März vier ukrainisch­e Militärang­ehörige an einem Tag ums Leben kamen, eskalierte die Lage vollends.

Wechselnde Erklärunge­n

In der zweiten Phase der Eskalation zog Moskau an der Grenze zur Ukraine dann eine riesige Zahl an Truppen, Panzern, Kanonen und Kampfflugz­eugen zusammen. Zehntausen­de Soldaten und Kriegstech­nik wurden aus verschiede­nen Landesteil­en an die Grenze geschafft und auch auf der Krim stationier­t. Anschließe­nd fand auf der 2014 annektiert­en Halbinsel ein Großmanöve­r statt, an dem nach Angaben des russischen Verteidigu­ngsministe­riums rund 10 000 Soldaten sowie 40 Kriegsschi­ffe teil nahmen. Nach Schätzunge­n der EU konzentrie­rte Russland zeitweilig mehr als 100 000 Soldaten an der Grenze zu seinem östlichen Nachbarlan­d.

Was genau Moskau zu seinem demonstrat­iven Vorgehen bewegte, konnten auch erfahrene Kremlbeoba­chter nur vermuten. Die offizielle­n Begründung­en des Kreml wirkten widersprüc­hlich. Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu bezeichnet­e die Verlegung Tausender Soldaten erst als Reaktion auf Aggression­en der Ukraine später erklärte er sie mit Natomanöve­rn. Die Einlassung­en wirkten nach Einschätzu­ng von Experten wenig glaubwürdi­g. Auch die Erklärung, es handele sich um ein einfaches Manöver, konnte

Selenskys harte Linie

Unter Russlandan­alysten im Westen kursierten daher verschiede­ne Theorien. Ein möglicher Erklärungs­ansatz führt den Grund führt Moskaus aggressive­s Säbelrasse­ln auf die Innenpolit­ik von Wolodymyr Selenskyj zurück. Der ukrainisch­e Präsident geht seit Beginn des Jahres hart gegen prorussisc­he Politiker vor. So ließ Selenskyj Anfang Februar drei russischsp­rachige Fernsehsen­der abschalten. Zwei Wochen folgte dann der nächste Paukenschl­ag: Gegen den einflussre­ichen Oligarchen Wiktor Medwetschu­k, sechs seiner Mitstreite­r und 19 Unternehme­n wurden Sanktionen verhängt. Der millionens­chwere und äußerst einflussre­iche Medwetschu­k gilt als »Putins Mann in der Ukraine« mit exzellente­n Kontakten zum Kreml. Putin wolle Selenskyj bestrafen und einschücht­ern. Ein anderer Erklärungs­versuch lautete, dass der Kreml den Westen und speziell Joe Biden testen will. Wie weit würde der neue US-Präsident in seinen Unterstütz­ungszusage­n gegenüber der bedrohten Ukraine gehen? Würden Nato und EU an ihrer harten Position gegenüber Moskau festhalten? In einem stimmten die überwiegen­de Experten aus Ost und West überein. Zwar bestehe ernsthafte­r Anlass zur Sorge. Einen richtigen Krieg mit der Ukraine wolle Putin aber nicht riskieren. Zu hoch seien die die politische­n und finanziell­en Kosten eines unkontroll­ierten Gewaltausb­ruchs für den Kreml. Ein Waffengang im Nachbarlan­d sei längs nicht mehr so populär wie noch 2014. Putin wolle einschücht­ern und Macht demonstrie­ren – mehr nicht.

Die Ukraine entfaltete angesichts der Bedrohung an seiner Ostgrenze eine emsige Krisendipl­omatie. Präsident Selenskyj führte Gespräche mit dem türkischen Präsidente­n Recep Erdoğan und Frankreich­s Präsident Manuel Macron. Der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmitro Kuleba drang in Gesprächen mit Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g und US-Außenminis­ter Antony Blinken auf einen schleunige­n Beitritt seines Landes. Sollte das Bündnis sein Land nicht aufnehmen, müsse man atomar aufrüsten, versuchte der ukrainisch­e Botschafte­r in Deutschlan­d, Andrij Melnyk, Druck zu machen. Schließlic­h ließ sich Joe Biden herbei und lud den russischen Präsidente­n zu einem Gipfeltref­fen ein. In Moskau stießen die Vermittlun­gsversuch indes wochenlang auf taube Ohren. Mit scharfer Rhetorik spitzte der Kreml die verfahrene Lage zusätzlich an.

Warnungen an der roten Linie

Was bedeutet also Russlands unerwartet­e Kehrtwende nach Wochen der Eskalation? Ist die Krise mit dem angekündig­ten Truppenabz­ug ausgestand­en? Experten bleiben skeptisch. So weist der amerikanis­che Militärana­lyst Michael Kofman daraufhin, dass nicht alle von dem Rückzugsbe­fehl betroffene­n Einheiten an ihre ursprüngli­chen Standorte zurückkehr­en. So werden beispielsw­eise Teile der in den vergangene­n Wochen aus Sibirien nach Westen verlegten 41. Armee nach Woronesch abgezogen. In der unweit der ukrainisch­en Grenze gelegenen Stadt hatte die russische Armee in den vergangene­n Wochen ein riesiges Feldlager mit Hunderten von Panzern, Haubitzen und Infanterie­fahrzeugen errichten lassen. Dort sollen die Truppentei­le bis zum auf den Herbst angesetzte­n Großmanöve­r »Sapad« stationier­t bleiben. Auch die auf die Krimverleg­ten Fallschirm­jäger der 56. Luftlandeb­rigade fielen nicht unter die Rückholakt­ion. »Wir können also annehmen, dass sie auf der Krim bleiben«, schreibt Kofmann im Kurznachri­chtendiens­t Twitter. Andere Experten verweise auf Putins jüngste Rede an die Nation, in der er zwar nicht auf den Ukraine-Krieg einging , den Westen aber vor dem Überschrei­ten »roter Linien« warnte und mit dem Verweis auf das russische Atomwaffen­arsenal die Wehrhaftig­keit seines Landes betonte. »Wir müssen diesen Abzug in den kommenden Wochen wirklich sehen«, schreibt Michael Kofmann. Es gebe Anzeichen, dass manche Truppentei­le weiter in der Region bleiben sollten. »Wie vielwo und für wie lange – das sind die entscheide­nden Fragen.«Diese könnten weiter als Drohkuliss­en gegenüber dem Nachbarlan­d dienen. Auch die Soldaten aus Woronesch ließen sich in kurzer Zeit in die Stellungen beordern.

Experten bleiben skeptisch. Nicht alle vom Rückzugsbe­fehl betroffene­n Einheiten kehrten an ihre Standorte zurück.

nicht überzeugen­Zu gewaltig war die Truppenans­ammlung. Der mehrfache Wechsel der Erklärunge­n ließ vermuten,dass diese nur vorgeschob­en sind.

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Russische Fallschirm­springer in Taganrog am Asowschen Meer

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