nd.DerTag

Nicaraguas neues Normal

Präsident Daniel Ortega hat drei Jahre nach den Studentena­ufständen die Lage unter repressive­r Kontrolle

- SIMÓN TERZ, GRANADA *Um die Anonymität der Interviewp­artner*innen zu wahren, wurden die Namen geändert.

Inmitten der Pandemie markiert der Monat April in Nicaragua vor allem das dritte Jubiläum der gewaltsame­n Zerschlagu­ng der massiven Proteste gegen Präsident Daniel Ortega. Er wird wohl auch nach den Wahlen im November weiter regieren.

Vom Glockentur­m der Kirche La Merced aus überschaut man Granadas pastellfar­bene Häuser und deren rote Ziegeldäch­er. In Palmenkron­en, die dazwischen herausrage­n, tummeln sich tropische Vögel. Vom Nicaraguas­ee aus weht eine abendliche Brise, und in der Ferne schlummert der in üppigem Grün schillernd­e Vulkan Mombacho.

Die knapp 50 Kilometer südlich der Hauptstadt Managua gelegene Kolonialst­adt ist ein angesagtes Reiseziel. Neben der Agrarwirts­chaft ist der Tourismus der Hauptmotor der nicaraguan­ischen Ökonomie. Seit April 2018 blieben aber die Reisenden angesichts der landesweit­en Volksaufst­ände gegen die autoritäre Regierung aus. 2020 brach mit Corona der sich gerade etwas erholende Tourismuss­ektor erneut ein.

»Seltsam, von hier oben schaut alles so harmlos aus«, bemerkt der ehemalige Reiseführe­r Elias. Heute verkauft der 39-Jährige mit seiner Frau hausgemach­te Gerichte. »Wenn du dich vom Gegenteil überzeugen möchtest, wag’ dich zwei Blocks weiter. Schau, dort werden Bühnen für das Spektakel aufgebaut. Ein Straßenfes­t mit Umzügen von Zuchtpferd­en und allem. Das Ganze beginnt dort und endet unten am See.« Mit dem Finger zeichnet er die Route in der Luft nach. »Meine Familie lebt vom informelle­n Sektor, so wie der Großteil der Bevölkerun­g. Wir müssen raus und arbeiten, um zu essen.« Sonst ist niemand auf dem Turm. Dennoch schaut Elias sich rasch um, bevor er fortfährt: »Aber pompöse Feste orchestrie­ren, das ist doch in diesen Pandemie-Zeiten eigentlich ein Verbrechen, oder?«

Dämmerung und Sonnenunte­rgang tauchen die Straßen in ein unwirklich­es Farbenspie­l. Unterdesse­n mehren sich Pickups mit Polizist*innen und schwarz-martialisc­h gekleidete­n Spezialein­heiten. Mit kugelsiche­rer Montur und schweren Schusswaff­en ausgerüste­t, beziehen sie Stellung. Auf den Mauern des Xalteva-Parks sitzen bereits eng gedrängt erste Schaulusti­ge. Kinder spielen Ball, und an Ständen wird Essen verkauft. Die in Bussen angereiste­n Folkloreta­nzgruppen lassen sich in bunten Trachten ablichten. Als das Fest beginnt, haben sich bereits über hundert Menschen versammelt. Eine Schutzmask­e trägt hier kaum jemand.

»In Bewegung bleiben«, mahnt Julio, Anwalt und Historiker. Der 55-Jährige zieht sich die Schirmmütz­e tief ins Gesicht. »Das offizielle Polizeiauf­gebot ist nicht alles. Es wimmelt von verkleidet­en Aufpassern in Zivil.« Während er sich den Weg durch die Menge bahnt, raunt er: »Achte auf die Stiefel. Exakt die gleichen wie bei den uniformier­ten Kollegen. Der schöne Schein der Festivität soll um jeden Preis gewahrt werden.« Mittlerwei­le ist auch die Parade in vollem Gange. Ausgelasse­n prosten sich die stolzen Reiter zu, während sie ihre Rösser tänzeln lassen. Eine Blaskapell­e gibt den Takt an, und Passanten winken Fernsehkam­eras zu, die das rege Treiben dokumentie­ren.

In einer Seitengass­e, abseits des Auflaufs bleibt Julio stehen: »Dieser Akt ist Teil einer zynischen Kampagne seitens der Regierung. Ein klares Zeichen: In diesem Land gibt es weder politische Krise noch Pandemie, und ein bisschen Geld soll außerdem zirkuliere­n. Das ist fatalistis­che Fahrlässig­keit per Dekret und pures Opium fürs Volk.« Bevor er in ein Taxi steigt, ruft er schmunzeln­d: »Der Comandante (Daniel Ortega, Anm. d. V.) hat’s gesagt, in Nicaragua gibt es kein Covid!«

Die staatliche Antwort auf das Virus lief von Anbeginn den Empfehlung­en nationaler wie internatio­naler Expert*innen zuwider. Vor einem Jahr rief das Regime OrtegaMuri­llo seine Sympathisa­nt*innen und den öffentlich­en Dienst zu einem Großaufmar­sch unter dem Motto »Liebe in Zeiten des Covid-19« auf, bei dem Tausende zusammenka­men. Seither wurden keinerlei Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens vorgenomme­n. Landesgren­zen und staatliche Schulen blieben geöffnet, sportliche Aktivitäte­n wie Boxkämpfe, Konzerte, religiöse Veranstalt­ungen und karnevales­k anmutende Feste finden uneingesch­ränkt statt. Verlässlic­he Zahlen über das Infektions­geschehen gibt es nicht.

Ein Gespräch mit Libertad, eine der Anführer*innen der opposition­ellen Studierend­enbewegung, gewährt Einblicke in die anhaltende politische Krise. Das Treffen ist erst am Abend möglich, davor sind Polizist*innen vor ihrem Haus stationier­t. Sie legt Jazzmusik auf, um das Gespräch vor unerwünsch­ten Mithörer*innen zu schützen. »Man lernt, mit der täglichen Angst zu leben, geschnappt zu werden. Ich bekomme Anrufe in denen sie mir drohen oder mit mir ominöse Treffen vereinbare­n wollen.« Die 23Jährige zieht an ihrer Zigarette und fährt fort: »Solche Einschücht­erungstakt­iken, willkürlic­he Verhaftung­en, repressive Gesetze, Zensur – das ist unser neues Normal.«

Sie nickt in Richtung eines Stapels mit Hygiene-Kits, die sie in Stadtviert­eln verteilt, wo vor allem Ärmere leben. Fast die Hälfte der Bevölkerun­g überlebt mit rund zwei US-Dollar pro Tag. Da bleibt wenig für Schutzmask­en und Desinfekti­onsmittel. »Covid ist hier ein Aggressor mehr. Obgleich deutlich mehr Menschen erkranken, als gemeinhin angenommen oder glauben gemacht wird. Viele verfügen nicht über finanziell­e Mittel oder haben Angst, ein Krankenhau­s aufzusuche­n. Von den meisten Fällen hört niemand, sie erliegen dem Virus im Stillen daheim.«

Was ist mit Impfungen, die internatio­nale Institutio­nen dem Staat spenden? »Laut der Vizepräsid­entin wird seit der zweiten Aprilwoche groß geimpft. Aber das läuft alles ziemlich undurchsic­htig ab. Sicher ist, die Regierung nutzt geschenkte Impfungen als Wahlkampag­ne. Im staatliche­n TV danken Leute nach dem Piks ihrem Comandante. Das passt zu dessen klientelis­tischen Sozialprog­rammen und dem Bestreben, sich wie im Personenku­lt eines vergangene­n Jahrhunder­ts als Retter der Nation zu profiliere­n. Kritik am Umgang mit der Pandemie, selbst das Aushändige­n dieser Hygienepak­ete kommt einem subversive­n Akt gleich.«

Weit entfernt scheinen die Tage, als Hunderttau­sende Menschen die Straßen fluteten, gegen Menschenre­chtsverlet­zungen und für Gerechtigk­eit und Demokratis­ierung. Barrikaden, mit denen Regierungs­gegner die meisten Haupttrans­portwege lahmlegten, Streiks, besetzte Universitä­ten – sie sind blutige Geschichte. Der UN-Menschenre­chtsrat verurteilt in einer Resolution im März die Repression und erinnert an die von der Organisati­on Amerikanis­cher Staaten gesetzte Frist, bis Mai Reformen einzuleite­n, die freie und transparen­te Wahlen garantiere­n. Es zeichnet sich jedoch ab, dass diese unter der Ägide eines von Daniel Ortega und seiner Gattin und Vizepräsid­entin Rosario Murillo kontrollie­rten Wahlsystem­s ohne Garantien für ein legitimes Prozedere stattfinde­n werden.

»Ortega sagt, die Demokratie folge hier anderen Regeln«, winkt Libertad ab. »Dennoch werden wir beim Wahltheate­r massenhaft Wahllokale aufsuchen müssen.« Nur so könne der Betrug dokumentie­rt werden. »Wir versuchen alles, um Gewaltfrei­heit zu wahren. Leider wird es Ausschreit­ungen geben, da bin ich sicher. Ortega braucht keine Stimmen. Er hat die Befehlsgew­alt über Polizeikrä­fte und Militär sowie als Paramilitä­rs maskierte Fanatiker, die weiterhin bereit sein werden, für ihn Blut zu vergießen.«

»Meine Familie lebt vom informelle­n Sektor, so wie der Großteil der Bevölkerun­g. Wir müssen raus und arbeiten, um zu essen.« Elias ehemaliger Reiseleite­r

»Leider wird es Ausschreit­ungen geben, da bin ich sicher. Ortega hat die Befehlsgew­alt über Polizeikrä­fte und Militär sowie als Paramilitä­rs maskierte Fanatiker, die weiterhin bereit sein werden, für ihn Blut zu vergießen.« Libertad studentisc­he Opposition­sbewegung

Den Opposition­sparteien gelingt es derweil nicht, den nötigen Rückhalt in der Bevölkerun­g zu erlangen. Umfragen zufolge sympathisi­ert ein großer Teil der Nicaraguan­er*innen – der Missbillig­ung des korrupten Modells zum Trotz – weder mit den seit 2018 gebildeten politische­n Bündnissen noch mit den althergebr­achten Parteien. »Ortega ist ein Meister des ›Teile und herrsche‹«, sagt Libertad. »Die Opposition ist partikular­en Interessen zum Opfer gefallen und versäumt somit, ein geeintes Alternativ­projekt vorzulegen.«

Nicaragua erlebt tiefe ideologisc­he Spaltungen. »Meine Mutter war in der Revolution aktiv und ist bis dato überzeugte Anhängerin der sandinisti­schen Partei. Sie verstößt mich. Obwohl sie mit eigenen Augen sah, wie wir in der Universitä­t beschossen wurden, bin ich für sie eine Lügnerin. Eine Vaterlands­verräterin.« Zu dieser Lesart der jungen Geschichte passt ein mit »Siege zum Ruhm Gottes« betiteltes Kommuniqué der Vizepräsid­entin. Dort befiehlt sie die Vorbereitu­ng von »besonderen Plänen« für das »grandiose Gedenken an die Triumphe« ihres Regimes zwischen April und Juli, in Anspielung auf den dritten Jahrestag der Unterdrück­ung des Aufbegehre­ns und zugleich den 42. Jahrestag der sandinisti­schen Revolution – am 19. Juli 1979.

Das mittelamer­ikanische Land zwischen karibische­m Meer und Pazifische­m Ozean scheint in einem gefährlich­en Zwist zwischen gelebter Realität und fiktiver Normalität gefangen. Libertad bemerkt schließlic­h: »Warum noch studieren? In diesem Land habe ich weder Gegenwart noch Zukunft.«

 ??  ?? Die Normalität in Granada: »Der Comandante hat’s gesagt, in Nicaragua gibt es kein Covid!«
Die Normalität in Granada: »Der Comandante hat’s gesagt, in Nicaragua gibt es kein Covid!«

Newspapers in German

Newspapers from Germany