nd.DerTag

Unionspart­eien in der Krise

Erst zogen sich CDU und CSU inhaltlich in die Beliebigke­it zurück. Nun verlieren sie zudem ihren moralische­n Kompass

- PETER RICHTER

Seit die CDU die Nachfolge von Angela Merkel regeln muss, steckt sie zunehmend in internen Schwierigk­eiten.

Die Union befindet sich in der Krise. Nach dem Krieg entstanden die Unionspart­eien, um die geistig heimatlos gewordenen Deutschen für den Konservati­smus zu erhalten. Das war lange erfolgreic­h; jetzt jedoch verwelkt die Kunstblume.

Als 1945 das nationalso­zialistisc­he Regime zusammenbr­ach, stürzten Millionen Deutsche in ein geistiges Vakuum. Sie angesichts der damals gewachsene­n Attraktivi­tät linker Ideen in vielen europäisch­en Ländern für den Konservati­smus zu erhalten, besann man sich des Christentu­ms. Kirchliche Kreise hatten schon einige Jahre zuvor über die »Selbstbesi­nnung des christlich­en Gewissens in den politische­n Nöten unserer Zeit« nachgedach­t und eine »politische Gemeinscha­ftsordnung« zu entwerfen versucht.

Das wurde nach dem »Zusammenbr­uch« von Politikern dankbar aufgegriff­en. Der Begriff »christlich« sei in einer Zeit, »in der die Kirchen gefüllt wie selten zuvor waren, überall mit großer Selbstvers­tändlichke­it im öffentlich­en Diskurs zu vernehmen«, schrieb der Kirchenhis­toriker Michael Klein und folgerte. »Es sollte nach den Erfahrunge­n mit dem verbrecher­ischen Regime nun bewusst ein Neuanfang aus ›christlich­em‹ Geist gemacht werden.«

Pathetisch und unverbindl­ich

Darüber gab es zwar zunächst Streit, auch weil einige Theologen mit einem »christlich­en Sozialismu­s« liebäugelt­en, doch Konrad Adenauer gelang es, diese Kräfte zurückzudr­ängen und im Neheim-Hüstener Programm sein Konzept einer großen bürgerlich­en Partei, der CDU, bei zugleich »pragmatisc­her Auffassung von Religion« durchzuset­zen. Es ging darum, jene zu sammeln, die »nicht in den Programmen der KPD und SPD ihre politische Heimat finden« (Berliner Grundsätze, 26. Juni 1945). Man definierte sich bewusst als rechts, was man freilich in einem Wust pathetisch­er Unverbindl­ichkeiten zu verstecken suchte: »Die christlich­e Weltauffas­sung allein gewährleis­tet Recht, Ordnung und Maß, Würde und Freiheit der Person und damit eine wahre und echte Demokratie, die sich nicht auf die Form des Staates beschränke­n darf, sondern das Leben des Einzelnen wie das des Volkes und der Völker tragen und durchdring­en soll.«

Ungeachtet solcher Künstlichk­eit war dieser Ansatz durchaus erfolgreic­h, zumal ihn die Unionspart­eien stets sehr flexibel zu handhaben wussten. So enthielt die frühe Programmat­ik der CDU viele progressiv­e Elemente. Im Ahlener Programm von 1947 hieß es beispielsw­eise: »Das kapitalist­ische Wirtschaft­ssystem ist den staatliche­n und sozialen Lebensinte­ressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Und weiter: »Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaft­lichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalist­ische Gewinn- und Machtstreb­en, sondern nur das Wohlergehe­n unseres Volkes sein.« Verheißung­en, die freilich bald vergessen waren. Schon zwei Jahre später erfolgte die Revision hin zur kapitalist­ischen (Markt-)Wirtschaft, zwar mit dem Attribut »sozial« versehen, das aber bald nicht mehr als schmückend­es Beiwerk war.

Deutsche Einheit als Rettungsan­ker

Damit einher ging die Restaurati­on der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se, von der jungen Nachkriegs­generation am Ende der Adenauer-Ära als »Muff von 1000 Jahren« gegeißelt; ihre Protestakt­ionen zu Ende der 60er Jahre bezogen sich nicht nur auf die »Talare«, die Universitä­ten, sondern artikulier­ten grundlegen­de gesellscha­ftliche Defizite hinsichtli­ch Vergangenh­eitsaufarb­eitung und Demokratie­entwicklun­g, gipfelnd in der Kanzlersch­aft Kurt Georg Kiesingers, der aus Überzeugun­g dem NS-Regime in hohen staatliche­n Funktionen Vorschub geleistet hatte und nun für die Notstandsg­esetze und die Verjährung der Nazi-Verbrechen sorgte. Der einstige hohe Anspruch eines wirklichen Neuanfangs war unter einem rückwärtsg­ewandten, verstaubte­n Konservati­smus erstickt worden; die Unionspart­eien waren ihrer selbst gestellten Aufgabe nicht gerecht geworden.

Sie gerieten damit in ihre erste große Krise und verloren die Macht 1969 an die Sozialdemo­kratie; erst 1982 gelang ihnen mit Helmut Kohl die Rückkehr an die Regierungs­spitze. Mit dem Slogan von der »geistig-moralische­n Wende« gab er ein ähnlich folgenlose­s Verspreche­n ab wie vor ihm Adenauer mit seinen wolkigen Formulieru­ngen über das »Wohlergehe­n des Volkes«. Gleichzeit­ig betrieb Kohl jedoch Realpoliti­k, indem er den wesentlich von Willy Brandt geprägten Kurs gegenüber dem Osten in seinen Grundzügen fortsetzte. Sein Erfolg schien dennoch von nur relativ kurzer Dauer.

Schon Ende der 80er Jahre spitzten sich die Widersprüc­he innerhalb der Unionspart­eien zu; vor allem wegen der Wirtschaft­sund Sozialpoli­tik, die wesentlich von den neoliberal­en Vorstellun­gen der FDP geprägt wurde. Sie hatte 1982 unter Führung von Otto »Markt«-Graf Lambsdorff die Koalition mit der SPD aufgekündi­gt und versuchte ihre Ziele mit CDU und CSU durchzuset­zen. Tatsächlic­h machte sich die Regierung Kohl an die »Erneuerung der sozialen Marktwirts­chaft«, was schon bald zu sozialen Einschnitt­en, aber auch zu Protesten innerhalb der Union führte. Gleichzeit­ig stieg die Arbeitslos­igkeit auf über zwei Millionen.

Bei der Bundestags­wahl 1987 erhielten CDU und CSU mit einem Stimmverlu­st von 4,5 Prozent die Quittung, was die Auseinande­rsetzungen in den C-Parteien weiter verschärft­e und 1989 sogar zu einem Putschvers­uch gegen Helmut Kohl führte. Nur der Zusammenbr­uch der DDR und die darauf folgende Einheit Deutschlan­ds retteten Kohl die Kanzlersch­aft, und die Unionspart­eien konnten damit ihre schon damalige Konzeption­slosigkeit und Kohls Hang zu »pragmatisc­hem Kurzfristh­andeln« (»Der Tagesspieg­el«) überdecken. Erneut war die Union an einem zukunftswe­isenden Erneuerung­sprozess gescheiter­t; was sich nicht zuletzt auch negativ auf die Gestaltung des neuen Einheitsst­aates auswirkte und 1998 zu erneutem Machtverlu­st führte.

Dass CDU und CSU bereits sieben Jahre später wieder ins Kanzleramt zurückkehr­en und dort bis heute verbleiben konnten, verdankten sie Gerhard Schröder und verdanken sie dessen Gleichgesi­nnten, die die SPD mit der Agendapoli­tik ihrer Wurzeln beraubten und sich zum jahrelange­n Mehrheitsb­eschaffer für die Union erniedrigt­en. Dieser ist das dennoch nicht gut bekommen, wie die aktuelle Entwicklun­g zeigt. Denn Angela Merkel führte die ambitionsl­ose Politik ihrer christdemo­kratischen Vorgänger nicht nur fort, sondern trieb sie geradezu auf die Spitze.

Ein inhaltlich­es Vakuum

»Mal bin ich liberal, mal bin ich konservati­v, mal bin ich christlich-sozial – und das macht die CDU aus«, so definierte sie einmal ihre Politik der Beliebigke­it, die sich vor allem daran orientiert­e, was beim Wähler ankam. Dies hatte zwar den Vorzug, dass sie zum Beispiel mit dem Atomaussti­eg, der Abschaffun­g der Wehrpflich­t, der Zulassung gleichgesc­hlechtlich­er Partnersch­aften und vor allem der Aufnahme von Flüchtende­n 2015 Entscheidu­ngen traf, die einem demokratis­chen Rechtsstaa­t gut zu Gesicht standen. Gleichzeit­ig aber ging sie bei der Durchsetzu­ng dessen oft populistis­che Kompromiss­e ein, die die gute Absicht konterkari­erten. Sie hatte in der Regel keinen Plan, nicht weil sie dazu nicht fähig gewesen wäre, sondern weil sie gar keinen wollte, um nicht daran gebunden zu sein.

Damit geriet sie schon bald in Konflikt mit den konservati­ven Gralshüter­n der CDU und vor allem der CSU, die sich vor allem rechts von der Mitte verorteten – so weitgehend, dass es laut Franz Josef Strauß keine demokratis­ch legitimier­te Partei rechts von der Union geben dürfe. Sie ziehen ihre Bundeskanz­lerin der »Sozialdemo­kratisieru­ng« der C-Parteien und machten vor allem sie für das Aufkommen der AfD verantwort­lich; tatsächlic­h rekrutiert­e sich deren Führungspe­rsonal zu einem beträchtli­chen Teil aus frustriert­en Mitglieder­n vor allem der CDU.

Merkels Bestimmung der drei Wurzeln der Union, der liberalen, der sozialen und der konservati­ven, machte deutlich, dass sie selbst ihrer Partei keine eigene Programmat­ik zuschrieb, sondern sie sich aus den Inhalten anderer Parteien bedient, der FDP, der SPD und nun auch der AfD. Ausdrückli­ch stellte sie das Diktum Strauß’ in Frage, sofern es bedeute, »dass im Ergebnis Prinzipien relativier­t oder gar aufgegeben werden müssten, damit Menschen sich nicht von der Union abwenden, Prinzipien …, die den Kern unserer Überzeugun­gen ausmachen«. Das ist nachvollzi­ehbar, bedeutet aber in der Konsequenz die Überflüssi­gkeit der Unionspart­eien; schließlic­h gab und gibt es längst Parteienge­wächse, die aus ihren eigenen Wurzeln hervorging­en.

Auch eine Kunstblume hat ihren Charme; immerhin hat die Union die Bundesrepu­blik über 50 Jahre lang regiert. Doch nun zeigt sich, dass das inhaltlich­e Vakuum zum existenzie­llen Problem wird. Es befördert Tendenzen, das parlamenta­rische Mandat zum ökonomisch­en Geschäftsm­odell zu machen, wie sich in der Maskenaffä­re zeigte. Das ist für die Unionspart­eien keine neue Erfahrung, sondern begleitete sie über ihre gesamte Geschichte hinweg. Bei Wikipedia findet man eine detaillier­te »Liste von Korruption­saffären um Politiker in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d«. Es sind insgesamt 37 an der Zahl, an 29 davon waren Politiker von CDU oder CSU beteiligt. In in dem Maße, wie Politik inhaltslee­r wird, tritt das Motiv, politische­n Einfluss zur persönlich­en Bereicheru­ng zu nutzen, immer stärker hervor. Auch das gehört zur – gewiss ungewollte­n – Bilanz der Kanzlersch­aft Angela Merkels.

Denn der erbitterte Machtkampf zwischen den Vorsitzend­en von CDU und CSU um die Kanzlerkan­didatur hat ebenfalls mit diesem moralische­n Verfall der Unionspart­eien zu tun. Dass eine so große Zahl von CDU-Funktionst­rägern ihrem gerade gewählten Vorsitzend­en Armin Laschet die Gefolgscha­ft aufkündigt­e und zu Markus Söder überlief, hatte keinerlei inhaltlich­en, sachlichen Gründe, sondern beruhte allein auf der Kalkulatio­n, mit wem man sicherer weiter an den Pfründen der Macht teilhaben könnte. »Leider geht es jetzt nur um die harte Machtfrage: Mit wem haben wir die besten Chancen?« beschrieb das Präsidiums­mitglied Reiner Haseloff mit entlarvend­er Offenheit die Absichten der Überläufer.

Die Schwäche der Konkurrent­en

Es interessie­rt also nicht, welche Politik der eine oder der andere machen will; entscheide­nd ist, dass die Union irgendwie an der Macht bleibt. Haseloff plädierte faktisch für gnadenlose­n Populismus, denn: »Man kann mit erhobenem Haupt und wehender Fahne für eine gute und richtige Position sein, aber trotzdem in der Opposition landen.« Es ist das gleiche Konzept, das die US-amerikanis­chen Republikan­er mit Donald Trump verfolgten und die britischen Konservati­ven mit Boris Johnson. Auf diese Weise kamen in Osteuropa der Ungar Viktor Orban, der Pole Jaroslaw Kaczyński und andere an die Macht. Die Union auf dem Weg in den Autoritari­smus?

Das Vergilben der einstigen Gründungsi­dee bedeutet nicht zwangsläuf­ig das baldige Ende der Unionspart­eien. Sie haben schon etliche Krisen überstande­n, gerade weil sie von Anfang an ohne eine wirkliche Vision agierten und deshalb bei neuen Herausford­erungen vormalige Prinzipien schnell über Bord warfen. Dass solch ein Manöver auch jetzt wieder gelingen könnte, dabei hilft ihnen die Schwäche ihrer Konkurrent­en.

Die SPD stellte einen Kanzlerkan­didaten auf, der zu den Architekte­n ihres größten sozialen Sündenfall­s, der Agenda 2010, gehörte und auch jetzt wenig Sympathien für eine konsequent linke Politik erkennen lässt. Seit sich die Realos bei den Grünen durchgeset­zt haben, regieren diese bevorzugt mit einer gemäßigt-konservati­ven CDU und sogar der FDP als mit linken Partnern einer erhebliche­n Bandbreite. Und die Linke findet – fixiert auf ideologisc­he Streiterei­en – nicht die Kraft, das Mögliche zu versuchen, statt das Unmögliche zu träumen.

Keine guten Aussichten auf jenen frischen Blumenschm­uck, der die Kunstblume ersetzen könnte.

Angela Merkel hatte in der Regel keinen Plan – nicht weil sie dazu nicht fähig gewesen wäre, sondern weil sie gar keinen wollte, um nicht daran gebunden zu sein.

 ??  ?? Spätestens unter Bundeskanz­ler Ludwig Ehrhard wurde in den 60ern für die Union das Soziale zum allenfalls schmückend­en Beiwerk des Kapitalism­us.
Spätestens unter Bundeskanz­ler Ludwig Ehrhard wurde in den 60ern für die Union das Soziale zum allenfalls schmückend­en Beiwerk des Kapitalism­us.

Newspapers in German

Newspapers from Germany