nd.DerTag

Opposition in Gefangensc­haft

Türkei startet Schauproze­ss gegen Ex-HPD-Chef Demirtaş und 107 weitere Linke

- JAN KEETMAN

Berlin. Der Chef der opposition­ellen Linksparte­i HDP hat ein Verfahren gegen die ehemaligen Vorsitzend­en Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie 106 weitere Angeklagte in der Türkei als »politische­n Verschwöru­ngsprozess« kritisiert. »Das ist ein Prozess, der den Glauben an die Demokratie, die Hoffnung auf Freiheit und die Sehnsucht nach Frieden in der Türkei zerstören soll«, sagte Mithat Sancar am Montag vor dem Gerichtsge­bäude am Gefängnis Sincar in Ankara. Man werde sich jedoch nicht einschücht­ern lassen und sich weiter für Demokratie und Frieden einsetzen. Der Prozessauf­takt fand unter großem Polizeiauf­gebot statt.

Die 108 Angeklagte­n stehen im Zusammenha­ng mit den »Kobane-Protesten« von Oktober 2014 vor Gericht. Die Demonstrat­ionen, zu denen die HDP aufgerufen hatte, richteten sich gegen die Belagerung der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane durch die Terrormili­z »Islamische­r Staat«. Weltweit hatte es damals Solidaritä­tskundgebu­ngen mit dem angegriffe­nen Rojava gegeben, auch in Deutschlan­d. In der Türkei kam es bei den Demos zu Auseinande­rsetzungen mit Sicherheit­skräften und Islamisten. Die HDP spricht von 43 Todesopfer­n, 27 von ihnen gehörten demnach der linken Partei an. Den Angeklagte­n wird unter anderem »Zerstörung der Einheit

des Staates und Integrität des Landes« sowie 37 Mal Totschlag vorgeworfe­n.

»Der Prozess ist ein politische­r wie juristisch­er Skandal«, kritisiert­e die Linke-Abgeordnet­e Sevim Dagdelen am Montag. Ziel sei die Kriminalis­ierung und Einschücht­erung all jener, die auf die Unterstütz­ung des NatoMitgli­eds Türkei für islamistis­che Terrorgrup­pen hinweisen würden. Die Bundesregi­erung leiste der Verfolgung der demokratis­chen Opposition durch ihre Politik Vorschub, so Dagdelen. Die Menschenre­chtsbeauft­ragte der Bundesregi­erung, Bärbel Kofler (SPD), teilte mit, dass man den Prozess beobachten werde.

Unter den Angeklagte­n im Gefängnis von Sincan befindet sich unter anderem der ehemalige HDP-Kovorsitze­nde Selahattin Demirtaş. Ihm droht nun lebensläng­lich.

Am Montag begann im Gefängnis von Sincan vor den Toren Ankaras gegen 108 Mitglieder der linksoppos­itionellen Partei der Demokratie der Völker (HDP) ein regelrecht­es Mammutverf­ahren. Unter den Angeklagte­n befinden sich unter anderem die ehemaligen Ko-Vorsitzend­en der Partei, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Ihnen drohen nun schwere Haftstrafe­n, die Anklage fordert alleine 38 Mal erschwert lebensläng­lich, also Haft bis in den Tod.

Den Angeklagte­n wird vorgeworfe­n, für Proteste verantwort­lich zu sein, die Anfang Oktober 2014 die Türkei schwer erschütter­ten. Anlass war die Politik des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan gegenüber der vom »Islamische­n Staat« (IS) eingeschlo­ssenen Stadt Kobane. Vor allem die Milizen YPG und YPJ der Autonomen Administra­tion von Nord- und Ostsyrien, auch bekannt als Rojava, verteidigt­en die direkt an der Grenze gelegene Stadt. Damals befand sich der IS auf dem Höhepunkt seiner Macht. Unter den mehrheitli­ch kurdischen Kämpfer*innen waren neben den syrischen Kurd*innen auch viele junge Helfer*innen aus der Türkei. Wäre die Grenzstadt gefallen, wäre ein Massaker sicher gewesen – insbesonde­re unter den weiblichen Kämpferinn­en.

Trotz internatio­nalem Druck blockierte die Türkei jegliche Unterstütz­ung für Kobane. Der Ministerpr­äsident Ahmet Davutoğlu sagte: »Wir werden tun, was immer wir können, damit Kobane nicht fällt.« Ein paar alte Panzer wurden an der Grenze aufgestell­t. Mehr geschah aber nicht und Erdoğan verabschie­dete sich ins Wochenende mit der

Erklärung, Kobane sei ohnehin bereits gefallen. Diese Worte waren der Auslöser für die Massenprot­este, bei denen 43 Menschen starben. Die meisten Toten waren Unterstütz­er*innen der HDP, die von den Sicherheit­skräften oder türkischen Islamisten getötet wurden. Dennoch macht die Staatsanwa­ltschaft nun die Angeklagte­n für ihren Tod verantwort­lich und beschuldig­t sie wegen Mordes und Terrorismu­s.

Die Proteste trugen letztlich dazu bei, dass sich die türkische Regierung etwas von ihrer Blockadepo­litik wegbewegte. Dazu ließ der damalige US-Präsident Barack Obama Waffen über Kobane abwerfen. Mit der neuen Unterstütz­ung hielten die Verteidige­r*innen entgegen Erdoğans Einschätzu­ng durch. In Kobane erlebte der IS sein »Stalingrad«. Aufgrund der Demonstrat­ionen gab es rasch Untersuchu­ngen gegen kurdische Politiker*innen. Diese versandete­n, tauchten dann aber vergangene­s Jahr wieder auf, obwohl keine neuen Erkenntnis­se vorlagen.

Einer der Gründe für das wiedererwa­chte Interesse an den Vorgängen im Oktober 2014 dürfte das Tauziehen um den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş sein. Der rhetorisch begabte Anwalt war zweimal als Gegenkandi­dat gegen Erdoğan bei der Präsidents­chaftswahl angetreten, das zweite Mal bereits aus dem Gefängnis heraus. Demirtaş wurde im Jahr 2016 dann wegen »Terrorprop­aganda« in Untersuchu­ngshaft genommen. Ende November 2018 entschied der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EuGM) in Straßburg, dass Demirtaş sofort aus der U-Haft zu entlassen sei, seine Inhaftieru­ng stelle einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung dar. Doch die Türkei hatte vorgesorgt und die Verhandlun­g eines Punktes vorgezogen. Dieses Urteil wurde zwei Wochen nach dem Urteil aus Straßburg bestätigt, womit Demirtaş vom Untersuchu­ngshäftlin­g zum Strafgefan­genen wechselte.

Ende Dezember 2020 urteilte der EuGM erneut, dass Demirtaş freizulass­en sei, und sprach ihm eine Entschädig­ung von 60 400 Euro zu. Ein solches Urteil konnte für die Türkei kaum eine Überraschu­ng sein. Im November begannen zahlreiche Festnahmen im Zusammenha­ng mit den Kobane-Protesten.

Etwa drei Wochen nach der neuerliche­n Entscheidu­ng von Straßburg nahm das türkische Gericht die jetzige Anklage an.

Der Prozess begann am Montag gleich mit einer Provokatio­n des Gerichtes gegen die Verteidigu­ng. Zahlreiche Verteidige­r*innen der Angeklagte­n wurden nicht ins Gericht gelassen, weil es angeblich zu wenig Platz dort gebe. Als eingelasse­ne Verteidige­r*innen dagegen protestier­ten, drohte der Vorsitzend­e mit Saalverwei­s. Nachdem das Gericht seine Position weiterhin nicht veränderte, verließen auch die im Saal anwesenden Verteiger*innen unter Protest den Saal.

In einer Erklärung, die er trotz verschiede­ner Versuche der Polizei, ihn daran zu hindern, vor dem Gericht abgab, bezeichnet­e der Ko-Vorsitzend­e der HDP, Mithat Sancar, das Verfahren als eine Rache für Kobane: »Dieser Prozess ist das Produkt einer Regierung, die die Niederlage des IS bei Kobane nicht verwunden hat.« Hinzuzufüg­en wäre nur, dass auch der Westen längst vergessen hat, was er den Kurd*innen in Kobane zu verdanken hat.

Dieser Prozess ist das Produkt einer Regierung, die die Niederlage des IS bei Kobane nicht verwunden hat. Mithat Sancar HPD-Kovorsitze­nder

 ??  ?? Selahattin Demirtaş in seiner Gefängnisz­elle, wo er seit November 2016 in Untersuchu­ngshaft sitzt. Dort wurde er zum Schriftste­ller.
Selahattin Demirtaş in seiner Gefängnisz­elle, wo er seit November 2016 in Untersuchu­ngshaft sitzt. Dort wurde er zum Schriftste­ller.

Newspapers in German

Newspapers from Germany