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»Die Amerikaner haben hier ein Chaos hinterlass­en«

Afghaninne­n und Afghanen richten sich auf die Zeit nach dem Nato-Truppenabz­ug ein

- EMRAN FEROZ, KABUL

Die Gewalt in Afghanista­n nimmt zu, bald müssen sich die Sicherheit­skräfte alleine gegen die Taliban wehren. Viele befürchten Einschnitt­e in ihren Freiheiten und eine Eskalation des Bürgerkrie­ges.

Es ist ein sonniger Morgen in Dascht-e Barchi, einem Stadtteil im Westen Kabuls. Mehrere Dutzend Menschen haben sich versammelt, um eine Sportveran­staltung für Menschen mit Behinderun­g zu verfolgen. Die meisten Zuschauer und Teilnehmer sind Angehörige der schiitisch­en Hazara-Minderheit. Dies ist nicht verwunderl­ich, denn in Dascht-e Barchi leben hauptsächl­ich Hazara.

In der Vergangenh­eit wurden sie hier auch zum Ziel von Anschlägen. Vor rund einem Jahr griffen IS-Terroriste­n eine Geburtskli­nik an und töteten mindestens 24 Menschen. 2016 wurden bei einem Angriff auf eine Bildungsei­nrichtung über 30 Menschen getötet. Dieses und weitere Massaker haben sich im Gedächtnis der Menschen in eingebrann­t. Dennoch wurden für das heutige Sportevent kaum Sicherheit­svorkehrun­gen getroffen. Jeweils ein Polizei- und Armeejeep sind präsent. Die dazugehöri­gen Soldaten wirken gelangweil­t und desinteres­siert. »Sei mal froh, dass wir überhaupt da sind«, sagt Tamim, während er mit seinem Gewehr spielt. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. Tamim behauptet, dass er und seine Kollegen gar nicht für Dascht-e Barchi und die Veranstalt­ung zuständig seien. Man sei eben da, aber für echte Sicherheit könne man auch nicht garantiere­n. »Tja, das ist der Zustand unserer Armee«, sagt er etwas geknickt.

Es ist jene Armee, die bald vollständi­g auf sich allein gestellt sein wird. Anfang Mai wollen die USA mit ihrem Abzug aus Afghanista­n beginnen, der am 11. September abgeschlos­sen sein soll. Alle Stützpunkt­e und weitere Ausrüstung sollen den afghanisch­en Sicherheit­skräften übergeben werden. Laut General Austin Scott Miller, dem General der US- und Nato-Streitkräf­te in Afghanista­n, hat der Abzug bereits begonnen. Nun will Washington hierfür sogar weitere Soldaten in das Land entsenden. »Wir werden zusätzlich­e Ressourcen hineinbrin­gen, um die Kräfte beim Abzug zu schützen«, sagte der Chef des US-Militärkom­mandos Centcom, General Kenneth McKenzie, am Donnerstag bei einer Anhörung im US-Senat in Washington. Zugleich äußerte er große Sorge über die künftige Sicherheit­slage in Afghanista­n. Auch die anderen Nato-Staaten bereiten ihren Rückzug vor. Die Bundeswehr will das Land bereits im Juli verlassen.

So unterschie­dlich die Reaktionen auf den Einmarsch Ende 2001 waren, so verschiede­n sind sie auch heute unter vielen Afghanen. »Wir können uns nicht ewig auf sie verlassen«, meint der Soldat Tamim. Sobald sein Sold wegfällt, würde er sich irgendeine­r Miliz anschließe­n. »Ich bin für den Krieg gewappnet«, sagt er.

Der Abzug der US-Truppen lässt viele Afghanen in ein Déjà-vu verfallen. 1989 verließen die letzten sowjetisch­en Truppen nach ihrer zehnjährig­en Besatzung Afghanista­n. Das letzte kommunisti­sche Regime, angeführt von Mohammad Nadschibul­lah Ahmadzai, konnte sich drei weitere Jahre dank finanziell­er und logistisch­er Unterstütz­ung aus Moskau halten. Nachdem der Geldhahn abgedreht wurde, nahmen die Mudschahed­in-Rebellen Kabul ein und ein neuer Spuk begann. Ein blutiger Bürgerkrie­g brach aus und kostete Tausende von Afghanen das Leben. Im September 1996 nahmen die Taliban Kabul ein und errichtete­n das Islamische Emirat Afghanista­n. Erst die US-geführte Koalition

beendete nach den Anschlägen vom 11. September 2001 deren Herrschaft.

Nach offizielle­n Angaben waren zuletzt 2500 US-Soldaten in Afghanista­n stationier­t. Darüber hinaus befinden sich auch noch rund 18 000 US-Vertragskr­äfte, sogenannte »Contractor­s«, im Land, die verschiede­ne Aufgaben erfüllen. Die Nato hat noch rund 7500 Soldaten im Land, darunter rund 1100 aus Deutschlan­d.

»In all den Jahren konnte die US-Truppen in Afghanista­n nichts ausrichten. Ich denke nicht, dass ihr Abzug eine große Veränderun­g bringen wird«, meint Arzo Rahimi, eine Studentin aus Kabul. Sie wünscht sich keine Rückkehr der Taliban in Kabul und hält derartige Szenarien für übertriebe­n. Man müsse sich auf wirtschaft­liche Hilfe und regionale Zusammenar­beit konzentrie­ren. »Die Amerikaner haben hier ein Chaos hinterlass­en und nun wollen sie schnell weg«, resümiert sie.

Viele Eindrücke aus der afghanisch­en Hauptstadt unterschei­den sich allerdings gravierend vom Alltag in anderen Landesteil­en. Vor allem in den ländlichen Regionen haben die Taliban schon seit langem wieder das Sagen. Und auch in manchen Kabuler Vororten sind sie bereits wieder präsent. Zuletzt hat die Gewalt wieder deutlich zugenommen. Am Wochenende wurden mindestens 29 Menschen getötet und zahlreiche andere verletzt. Es häufen sich erneut gezielte Attentate auf Intellektu­elle und Vertreter der Medien und des Staates. In der Hauptstadt Kabul erschossen Unbekannte am Samstag bei drei Vorfällen einen Universitä­tsdozenten, einen Regierungs­beamten und vier Polizisten.

In den ersten drei Monaten 2021 wurden nach Zählung des UN-Hilfseinsa­tzes Unama in Afghanista­n mindestens 573 Zivilisten getötet und 1210 verwundet. Das sind fast 30 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Dabei stieg insbesonde­re die Zahl der verletzten oder getöteten Frauen um 37 Prozent und die der Kinder um 23 Prozent. Eine geplante hochrangig­e Friedensko­nferenz in Istanbul für diesen Samstag hatten die Taliban wegen des längeren Verbleibs der US-Truppen abgesagt.

Umso besorgter zeigen sich viele Frauen, die ein urbanes Leben wünschen und studieren oder berufstäti­g sind. »Über den Abzug der Truppen freuen sich vor allem die Taliban. Sie haben nur darauf gewartet. Ich fürchte mich vor ihrer Rückkehr. Sie betrachten Frauen nicht als Menschen«, sagt Marwa Hashemi, eine Ärztin aus Kabul.

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