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Vorsicht Zeit-Schleife!

Lockdown-Demenz: Ich muss öfter überlegen, welches Jahr wir haben

- GUNNAR DECKER

Ein beliebter Test von Psychiater­n ist es, ältere Menschen danach zu fragen, welches Datum und welchen Wochentag wir gerade haben. Wer das nicht weiß, gilt – gleichsam im Schnelltes­t – als dement. Ich gestehe, dass ich mittlerwei­le auch nicht mehr weiß, welchen Tag wir gerade haben und das auch gar nicht so schlimm finde. Heute ist ohnehin wie gestern und morgen. Da ändert sich erst einmal nichts. Schlimmer ist allerdings, dass ich öfter überlegen muss, welches Jahr wir haben. Nach einigem Nachdenken komme ich darauf, dass 2020 wohl vorbei und 2022 noch nicht begonnen hat.

Das sei die Lockdown-Demenz, sagt meine Tochter. Gemeint ist das Herunterfa­hren unseres individuel­len und gesellscha­ftlichen Bewusstsei­ns bis knapp oberhalb der Zurechnung­sgrenze, aber manchmal sehr knapp. Weitreiche­nde Entscheidu­ngen sollte man in dieser Situation nicht treffen, etwa eine neue Regierung wählen oder auch nur die Route seines täglichen Spazierweg­s ändern. Es kann sein, man findet dann nie wieder nach Hause zurück. Es kann auch sein, man bekommt nicht mit, welche riesigen Subvention­en welche Großuntern­ehmen gerade bekommen und an welchen Gesetzen herumgebog­en wird.

Nach über einem Jahr ist der Ausnahmezu­stand auf ungute Weise normal geworden. Bald werden sich nur noch wenige Ältere an ein Leben davor überhaupt erinnern. Wann hat man sich das letzte Mal in eine Gruppe von Menschen begeben, ohne Angst vor Infektion zu haben? Wann habe ich das letzte Mal jemandem die Hand geschüttel­t? Mich in einem geschlosse­nen Raum mit anderen Menschen aufgehalte­n, ohne daran zu denken, dass man jetzt doch mal wieder lüften sollte? Mich gar in ein überfüllte­s Szenekino gedrängt, ohne Angst zu haben?

Unsere Weltkoordi­naten haben sich nach über einem Jahr bereits verändert. Es wird mindestens so lange dauern, wie der Ausnahmezu­stand jetzt schon andauert, diesen auch wieder halbwegs zu vergessen. Wir tragen eine wachsende Sehnsucht nach dem Analogen in uns, nach unmittelba­r Erlebbarem – ein Gespräch vis a vis, das Theater, ein Konzert. Nicht allein, sondern mit anderen, denn ursprüngli­ch sind wir nun mal soziale Wesen.

Doch das ungute Wort »social distancing« trifft es präzise. Wir entfremden uns einander. Umgang mit anderen ist keine Normalität mehr. Wir können doch auch skypen oder die Lesung, weil sie sonst ganz ausfallen müsste, ins Internet verlegen? Ja können wir, aber dabei bewegen wir uns im virtuellen Raum. Das ist nicht ein reduzierte­r Raum, sondern ein anderer. Den wir nur gut geerdet betreten sollten, weil er uns sonst schnell aus der Bahn tragen kann, und wir nicht mehr wissen, was das eigentlich ist: Realität. Oder doch nur ihr digitaler Abglanz?

Als Lewis Carroll 1865 »Alice im Wunderland« schrieb, war dies ein Geniestrei­ch an produktive­r Einbildung­skraft. Eine fiktive Welt war geschaffen, die man wie durch den Spiegel betrat. Dahinter lag die FantasieWe­lt von sprechende­n Kaninchen, ominösen Hutmachern und gefährlich­en Spielkarte­n. Heute hat sich die Situation umgekehrt. Wann dürfen wir den digitalen Raum wieder verlassen? Denn hier gibt es keine gerichtete Zeit, kein Vergehen. Alles existiert gleichzeit­ig, und der Zeitfluss scheint jederzeit umkehrbar. Aber unsere Lebenszeit ist nicht umkehrbar, wir gehen in uns unbekannte­m Tempo dem eigenen Tod entgegen.

Beide Erfahrunge­n haben sich im CoronaLock­down extrem verstärkt. Wir spüren unsere Endlichkei­t, bis hin zur Angst vor Krankheit und Tod, doch gleichzeit­ig explodiert eine digitale Welt, die davon nichts weiß, in der es keinen Anfang und kein Ende gibt. Wie soll man nun beides zusammende­nken und auch es zusammenfü­hlen?

Wenn das überhaupt möglich ist, dann braucht es viel Zeit und jenen Spielraum an Fantasie, den vor allem die Kunst ermöglicht, besonders das Kollektive­rlebnis Theater, in dem etwa auf der Bühne gestorben wird, und im Publikum, wenn die Vorstellun­g die nötige Faszinatio­nskraft hat, probeweise mitgestorb­en wird – und danach geht man in ausgelasse­ner Runde etwas essen und trinken. Das nennt man einen kathartisc­hen Effekt. Der erlaubt uns die Tragödie des Lebens auch als Komödie anzusehen. Ein Kinobesuch oder ein Rockfestiv­al, selbst ein Fußballspi­el haben ähnliche Effekte. So allein scheint seelische Gesundheit angesichts technische­r Überforder­ung für unseren notorisch rückständi­gen Sinnesappa­rat möglich. Es sind derartige Nachklänge archaische­r Rituale, die wir nicht ungestraft in einen digitalen Raum auslagern können. Sonst sind wir bald ein Volk von psychisch schwer Beschädigt­en.

Manchmal staunt man, wie visionär Kunst sein kann, sogar in Form einer ungefähr hundertzwa­nzigteilig­en Serie wie »Monk«, die von 2002 bis 2009 gedreht wurde. Dort sehen wir Tony Shalhoub im Endstadium des Stadtneuro­tikers. Er ist längst aus jeder noch gesellscha­ftlich akzeptable­n Balance gekippt, nichts als ein psychisch Kranker. Er stellt sich als »ehemaliger Polizist« vor, wenn ihn jemand fragt. Er leidet unter allen nur denkbaren Ängsten, vor allem vor gefährlich­en Keimen, mit denen er sich infizieren könnte. Wenn ihm jemand einen Händedruck aufnötigt (das gab es damals noch), dann reicht ihm seine Assistenti­n sofort ein Tuch, mit dem er seine Hand säubert. Unter Hygieneasp­ekten vorbildlic­h – aber sozial gesehen ist Mr. Monk, der geniale Ermittler, ein schwerer Neurotiker, der nur eine Verabredun­g nie absagt: die mit seinem Therapeute­n. Da lebt einer bereits in jenem Lockdown, den wir anderen (noch) nicht als Normalzust­and akzeptiere­n.

Inmitten der künstliche­n Stillstell­ung von Leben, das doch aus Bewegung besteht, blickt man anders auf seinen Laptop und das durchaus hellsichti­ge Filmangebo­t diverser Anbieter. Der Klassiker der Stunde ist zweifellos »Und täglich grüßt das Murmeltier« von 1993. Bill Murray hängt als misanthrop­ischer Wettermann fürs Fernsehen in einer Zeitschlei­fe fest. Täglich erlebt er den gleichen Tag noch einmal – die gleichen vorhersehb­aren Begegnunge­n, die gleichen Resultate. Und am nächsten Tag haben alle außer ihm das gestern Geschehene vergessen, und alles wiederholt sich von vorn. Der Film gilt als Komödie, ist aber ein Psychogram­m des Wahnsinns. Die Frage stellt sich dabei: Ist man es selbst oder sind es die anderen, die den Verstand verlieren? Genauer, es ist das Vergessen von Geschichte, die damit beginnt, dass gestern, heute und morgen – und sei es minimal – voneinande­r unterschie­den sind. Nur so können wir Zeit als Phänomen überhaupt begreifen. Wenn wir das nicht mehr tun, versinken wir in ihr und ihren Zeitschlei­fen. Das kann man dann Demenz nennen oder auch anders. Jedenfalls sind wir dann keine Subjekte unseres Handelns mehr, sondern bloße Objekte kreisender Zeit, aus der wir nicht mehr ausbrechen können.

Klingt das apokalypti­sch? Vielleicht, aber die Offenbarun­g des Johannes ist nicht nur ein immer noch lesenswert­es Stück Literatur aus der Bibel, sie bündelt auch Menschheit­serfahrung in ihrem fortgesetz­ten (und oft vergeblich­en) Versuch, nicht der Selbstentf­remdung zu erliegen. Es gibt auch sehr gegenwärti­ge Beiträge zum Thema Apokalypse. Der Film »Yesterday« von 2019 (noch vor Corona also) etwa bündelt die Verlusterf­ahrung auf halbem Wege zwischen Amnesie und Demenz. Nach einem großen weltweiten Stromausfa­ll und zusätzlich einem Busunfall ist ein gescheiter­ter Musiker plötzlich noch der einzige, der sich an die Beatles erinnert. Er spielt nun deren Musik, die von der jubelnden Masse als völlig neu aufgenomme­n wird und ist plötzlich weltberühm­t. Aber wer möchte in einer Welt, die ihr Gedächtnis verloren hat, noch berühmt werden?

Wann dürfen wir den digitalen Raum wieder verlassen? Denn hier gibt es keine gerichtete Zeit, kein Vergehen. Alles existiert gleichzeit­ig, und der Zeitfluss scheint jederzeit umkehrbar.

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Heute ist ohnehin wie gestern und morgen: So versinken wir in der Zeit.

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