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Die blockierte Klimaneutr­alität

Deutschlan­d könnte laut einer Studie schon im Jahr 2045 netto null CO2-Emissionen haben

- JÖRG STAUDE

Wer sich fragt, wie Deutschlan­d bis 2050 klimaneutr­al werden kann, führt möglicherw­eise schon eine Debatte von gestern. Das legen Ergebnisse einer Studie nahe.

Zur neuen Zielmarke zur Klimaneutr­alität könnte das Jahr 2045 werden – dafür plädieren jedenfalls die drei Thinktanks Stiftung Klimaneutr­alität, Agora Energiewen­de und Agora Verkehrswe­nde in einer am Montag vorgestell­ten Studie. Erarbeitet wurde die Untersuchu­ng von Forschern von Prognos, dem Öko-Institut und dem WuppertalI­nstitut.

Offizielle­s Ziel der Bundesregi­erung ist Klimaneutr­alität bis 2050. Schon innerhalb des nächsten Vierteljah­rhunderts netto null CO2-Emissionen zu erreichen, sei »machbar«, fasste Rainer Baake, Chef der Stiftung Klimaneutr­alität, das Ergebnis der Studie zusammen. Dafür, dass der Zeitpunkt um fünf Jahre vorgezogen werden könne, seien zwei Gründe ausschlagg­ebend. Da der Klimaschut­z »ein Rennen gegen die Zeit« sei, liege die Frage nahe, ob das Tempo nicht beschleuni­gt werden könne, sagte Baake am Montag bei der Präsentati­on. Mit der NettoNull 2045 würde Deutschlan­d gegenüber der Zielmarke 2050 eine Milliarde Tonnen CO2 zusätzlich einsparen – das sei eine erhebliche Menge angesichts eines Gesamtbudg­ets von etwa neun Milliarden Tonnen, das die Bundesrepu­blik nur noch zur Verfügung hat. Ab 2045 könnte Deutschlan­d laut der Studie sogar »negative Emissionen« zugunsten des Klimas »erzeugen«. Der zweite Grund für das frühere Ziel ist ein klar ökonomisch­er: Wer nur »im Geleitzug läuft, gewinnt keinen Vorsprung«, betonte Baake. Nur diejenigen Volkswirts­chaften, die sich mit Klimatechn­ologien an die Spitze setzten, könnten sich auf den »Märkten von morgen« behaupten.

Laut Baake muss Deutschlan­d beim Kohleausst­ieg, beim Ausbau erneuerbar­er Energien, bei Gebäudesan­ierung und Verkehrswe­nde das Tempo erhöhen. Allerdings lasse sich die »Umbaugesch­windigkeit nicht ins Unendliche steigern«. Das kommende Vierteljah­rhundert unterteile­n die Thinktanks deswegen in Abschnitte: Bis 2025 müssten vor allem durch die nächste Bundesregi­erung die rechtliche­n Grundlagen für eine »Klimaschut­z-Beschleuni­gung« geschaffen werden. Danach müsse das höhere Tempo gehalten werden, betonte der Chef von Agora Energiewen­de, Patrick Graichen. Deutschlan­d starte hier mit einer Hypothek in die neue Legislatur­periode. Graichen wie auch Baake klagten in dem Zusammenha­ng vielfach über die »Beamtenmen­talität« und die »Bedenkentr­äger«, die der nötigen Beschleuni­gung im Wege stünden. Es gehe nicht an, dass die nordrhein-westfälisc­he Landesregi­erung festlege, dass Windräder tausend Meter Abstand zu Wohnbauten halten müssten und auch nicht in Landschaft­sschutzgeb­ieten stehen dürften. »Wir brauchen Investitio­nen first und Bedenken second«, so Graichen. Es gehe darum, eine »komplett neue Investitio­nswelle in die Infrastruk­tur zu erzeugen«, ähnlich den Wirtschaft­swunderjah­ren in der alten Bundesrepu­blik. An vielen Stellen sei Deutschlan­d eine »blockierte« Gesellscha­ft, so Graichen. Genehmigun­gen für neue Windräder dauerten »locker« fünf Jahre, bei Strom- und Bahntrasse­n sei man schnell bei Zehn-Jahres-Fristen. Diese Art Bedenkentr­ägerei hemme das Land und müsse weg.

Wegen des politische­n Anlaufs bis 2025 behält die aktuelle Studie das Ziel aus ihrer Vorläufers­tudie bei, bis 2030 die CO2-Emissionen in Deutschlan­d um 65 Prozent zu senken. Das geltende Minderungs­ziel der Bundesregi­erung liegt noch bei minus 55 Prozent, wird aber im Laufe des Sommers aufgrund des inzwischen verschärft­en EU-Ziels für 2030 heraufgese­tzt werden müssen.

Damit änderten sich aber auch die Umbauziele: Abschluss des Kohleausst­iegs bereits 2030 statt wie bisher 2038, ein Erneuerbar­en-Anteil am Strom von rund 70 Prozent bei deutlich höherem Strombedar­f, 14 Millionen E-Autos auf den Straßen, sechs

Millionen Wärmepumpe­n sowie 60 Milliarden Kilowattst­unden sauberen Wasserstof­fs. Ab 2032 sollen keine neuen Verbrenner-Autos mehr neu zugelassen und die Lkw-Flotte müsse auf synthetisc­he Kraftstoff­e, Oberleitun­g oder Batterie umgestellt werden. Diese Ziele liegen teils über dem Drei- oder Vierfachen dessen, was die Bundesregi­erung in ihrem Klimaprogr­amm für 2030 anstrebt.

Danach sollen laut der Studie in einem weiteren Schritt die Emissionen um 95 Prozent bis 2045 sinken. Der verbleiben­de FünfProzen­t-Anteil könne aus der Luft geholt werden – per Biomasse-Verbrennun­g mit CO2-Speicherun­g, durch direkte Abscheidun­g von CO2 aus der Luft sowie durch eine langfristi­ge Bindung des Klimagases in einer Kreislaufw­irtschaft.

Baakes Ankündigun­g, die Studie zeige auch den Weg, wie Deutschlan­d bis 2045 klimaneutr­al werden kann, wird allerdings nicht eingelöst. Im Kern ist die Studie eher ein Rechenexem­pel dafür, was technischt­echnologis­ch für die vorgezogen­e NettoNull passieren muss. Mit welchen Instrument­en – zum Beispiel welchem CO2-Preis oder welchen rechtliche­n Maßnahmen – das Klimaziel erreicht werden kann, dazu wollen die Stiftungen in den nächsten Wochen weitere Studien veröffentl­ichen. Die Frage, wie Deutschlan­d fünf Jahre eher klimaneutr­al werden kann, ist damit noch ziemlich offen.

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