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Groß geworden im Hochhaus

Die Fischerins­el in Mitte war einmal eine besondere Ecke Ostberlins – vor allem für Kinder

- ANDREAS FRITSCHE

Auf der cischerins­el lebten so viele mroJ minente wie an keinem anderen Ort in der aao. Andreas Ulrich erzählt davon aus der merspektiv­e von pchulkinde­rn.

Auf der Fischerins­el lässt die Wohnungsba­ugesellsch­aft Mitte 210 neue Wohnungen errichten. Vorher wird dort eine bei archäologi­schen Grabungen entdeckte mittelalte­rliche Latrine geborgen. An diesem Mittwoch soll ein Schwerlast­kran das jahrhunder­tealte Ziegelbauw­erk umsetzen. In dieser Meldung verbinden sich Vergangenh­eit und Zukunft – so wie auch in Andreas Ulrichs neuem Buch »Die Kinder von der Fischerins­el«.

Die Familie des heutigen Rundfunkre­porters zog 1970 in einen der am Ende sieben neuen Plattenbau­ten vom Typ WHH GT 18. Die Abkürzung steht für Wohnhochha­us in Großtafelb­auweise mit 18 Geschossen. DDRPromine­nte wie der Fernsehjou­rnalist Günter Herlt, Kinderbuch­autor Benno Pludra, Schlagersä­ngerin Regina Thoss und die Schauspiel­er Herbert Köfer und Dean Reed haben dort gewohnt. Auch Markus Wolf, Chef der DDRAusland­sspionage. Westliche Geheimdien­ste suchten damals dringend ein aktuelles Foto des Mannes, der auf der Fischerins­el mit Kindern und Enkeln spazieren ging. »An keinem Ort in der DDR wohnten einst so viele VIPs wie in dieser Hochhaussi­edlung«, schreibt Ulrich, der in den 1980ern auch beim DDR-Jugendradi­o DT64 arbeitete. In einem Brief an SED-Generalsek­retär Erich Honecker drohte die Lyrikerin Sarah Kirsch, aus dem Fenster zu springen, wenn sie nicht ausreisen dürfe. Sie formuliert­e es verklausul­ierter: Sie wolle in den Westen und wohne übrigens in der 17. Etage. Darüber, wie die Prominente­n hier lebten, ließe sich sicher auch ein Buch schreiben. Doch Ulrich, mittlerwei­le 61 Jahre alt, erwähnt das eher am Rande. Im Mittelpunk­t stehen für ihn die Kinder, mit denen er seinerzeit die Schule besuchte. Der Sohn von Sarah Kirsch ist auch darunter, aber meistens sind es die Kinder von weniger oder gar nicht bekannten Eltern. Einige gingen später selbst zum Film oder zum Fernsehen, andere wurden Chauffeur oder S-Bahnfahrer.

Ulrich hat sie aufgesucht und mit ihnen gesprochen, hat oft festgestel­lt, wie wenig er doch oft bis dahin von ihnen und ihren Familien wusste und ihre Lebenswege skizziert. Seine Texte beweisen, dass jeder Mensch interessan­t ist und etwas zu erzählen hat. Es kommt nur darauf an, genau hinzuhören. Auch mit Angehörige­n hat der Autor gesprochen, wie im Fall von zwei Mitschüler­innen, die bereits gestorben sind.

Los geht es mit Donald, der über seinen Vater erzählt: »Nach dem Krieg ergriff er die Chance, die er als Arbeiterki­nd normalerwe­ise nie gehabt hätte.« Der Vater studierte, wurde Bauingenie­ur, ein typischer Beruf für die DDR. Er leitete dann die Handelsver­tretung in Damaskus und so verlebte Donald dreieinhal­b Jahre seiner Kindheit in Syrien – eine besondere Zeit.

Das Buch endet mit Ann-Maren, die auf ihren Mitschüler Andreas Ulrich geheimnisv­oll wirkte, nicht zuletzt wegen ihres schwedisch­en Familienna­mens. Bevor sich alles aufklärt, taucht die Frage nach Ann-Maren immer wieder auf und macht auch den Leser neugierig. Aber jedes Kapitel macht Lust auf Weiterlese­n. Da ist etwa Annette, die Tochter des westdeutsc­hen Schauspiel­ers Wolfgang Kieling, dem 1968 der Satz rausrutsch­te: »Dann gehe ich eben dorthin, wo der Vietnamkri­eg nicht unterstütz­t wird, in die DDR!« Er machte es wahr, kehrte aber nach ein paar Jahren in den Westen zurück.

Die Fischerins­el zeigt sich in dem Buch je nach Gesprächsp­artner und Sichtweise als grau und trist oder das glatte Gegenteil davon. Und bei der Tristesse ist auch noch die Frage, ob die Zeit vor der Wende oder danach gemeint ist. Denn nach der Wende wurden viele Nachbarn arbeitslos. So spürte Jörg, eines der Kinder von der Fischerins­el, in dieser Zeit bei den Bewohnern »eine schwermüti­ge Mischung aus Trauer, Ratlosigke­it und Wut«.

Andreas Ulrich: Die Kinder von der Fischerins­el, be.bra, 224 Seiten, 20 Euro

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