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Aufklärung und Abwehr

Reinhard Schramm über Antisemiti­smus heute, Verschwöru­ngsmystike­r, »Querdenker« sowie Aufklärung und Abwehr

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Der Judenhass ist virulent, sogenannte Querdenker rufen nach Gaskammern. Reinhard Schramm ist höchst beunruhigt.

Professor Schramm, wie fühlen Sie sich als Jude in Deutschlan­d?

Öfter unwohl. Wir haben ein solch aggressive­s Verhalten in Deutschlan­d und europaweit gegen Juden wie heute nicht mehr für möglich gehalten – ein Dreivierte­ljahrhunde­rt nach dem millionenf­achen Mord der Nazis an den Juden. Die Rechtsextr­emisten und Antisemite­n sind uns geblieben, hetzen und morden weiter. Hinzu kommt – zweitens – der bedauerlic­he Zustand, dass auch einige Linke, und das tut besonders weh, den jüdischen Staat Israel als eine Art Lebensvers­icherung für uns Juden in Frage stellen. In unserem Unterbewus­stsein ist verankert, dass sich alles Schlimme wiederhole­n kann. Wir wollen aber nie wieder erfolglos nach Visa betteln müssen, wie zur Zeit unserer Verfolgung durch die Nazis.

Drittens sind wir in Europa mit einem militanten islamistis­chen Antisemiti­smus konfrontie­rt. Wir Juden treten für den uneingesch­ränkten Schutz des Asylrechts ein, wünschen uns aber auch von Seiten des Staates und der Gesellscha­ft eine verantwort­ungsvolle Integratio­n von Menschen, die aus muslimisch­en Ländern zu uns kommen. Und viertens werden angesichts Corona von Verschwöru­ngsmystike­rn wieder Stereotype und Vorurteile kolportier­t wie im Mittelalte­r, als Juden für die Pest und alles andere Unglück verantwort­lich gemacht worden sind. Es sind für mich auch »Querdenker« beängstige­nd, die wieder nach Gaskammern rufen.

Es ist also ein Konglomera­t von Bedrohunge­n, das Ihnen Angst macht?

Ja. Und für uns ist es genauso schlimm, wenn eine Rentnerin in Paris erschossen wird wie der Versuch, in der Synagoge von Halle ein Blutbad anzurichte­n. Judenhass kennt keine Grenzen. Und wir deutsche Juden haben das Gefühl, die Attentate kommen immer näher an uns heran: von Bordeaux über Paris und Kopenhagen nach Halle und Hamburg. Wir sehen Antisemiti­smus welcher Couleur auch immer als Gefahr an. Er beschädigt unser schönes vereintes Europa, für das wir Juden uns leidenscha­ftlich engagiert haben, weil wir glaubten, dass damit der Hass auf Juden wie generell gegen Menschen anderer Religion, Kultur oder Lebensart verschwind­en wird. Offenbar ein Irrtum.

Linkssein und Judenfeind­schaft schließen sich für mich prinzipiel­l aus. Wird mitunter Antisemiti­smus und Antizionis­mus verwechsel­t?

Leider nein. Ich habe viele Freunde auch in der Linksparte­i, etwa Bodo Ramelow. Wenn wir ihn um Unterstütz­ung baten, war er sofort bereit. Während ein Fraktionsv­orsitzende­r der Linksparte­i in einer Thüringer Stadt eine Veranstalt­ung mit der Begründung ablehnte: »Da kommt das Thema Israel hoch.«

Ich habe schon als Student in Polen unangenehm­e Erfahrunge­n mit Antisemiti­smus gemacht, worauf ich nicht vorbereite­t war. Ich traf während meines Studiums in Łódź und Gdańsk Polen, die uns jungen Deutschen sehr skeptisch gegenüber waren, andere brachten uns Sympathien entgegen und meinten, Deutschlan­d hätte noch mehr Juden umbringen sollen.

Antisemiti­smus ist also kein spezifisch deutsches Problem. Und auch nicht nur ein rechtsradi­kales. Laut Statistike­n werden 90 Prozent der Gewalttate­n gegen Juden von deutschen und europäisch­en Rechtsextr­emisten begangen. Mich beschleich­t jedoch die böse Vorahnung, dass sich in 20 Jahren, wenn wir nicht jetzt mehr dagegen tun, der Anteil islamistis­cher Antisemite­n erhöht.

Sind Sie prinzipiel­l gegen Kritik an Israel?

Man kann und sollte die Politik von Regierunge­n kritisiere­n, aber nicht die gesamte Gesellscha­ft des jüdischen Staates in Haftung nehmen. Dies aber tut die BDS-Bewegung, Boycott, Divestment and Sanctions. Sie ist in meinen Augen auch ein Sammelbeck­en der verschiede­nen Formen des Antisemiti­smus. Und das begründet ihre Gefährlich­keit. Es geht hier nicht nur gegen den jüdischen Staat, sondern die dort lebenden Menschen und alle Juden. Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag 2019 die Boykottauf­rufe gegen Israel verurteilt und die BDS-Bewegung als antisemiti­sch charakteri­siert hat.

Die BDS-Kapagne führt in eine Sackgasse, erhöht die Spannungen, statt sie abzubauen. Die gegenwärti­g zu erlebende Normalisie­rung der Beziehunge­n Israels mit den Vereinigte­n Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko bieten dahingegen eine echte Chance für eine Abkehr von Konfrontat­ion hin zur Zusammenar­beit und zur Annäherung an eine Lösung des palästinen­sisch-israelisch­en Konflikts.

Wie ist zu erklären, dass es immer noch Antisemiti­smus in Deutschlan­d und Europa gibt? Wird in der politische­n Bildung und in den Schulen noch zu wenig getan? War die DDR aufkläreri­sch aktiver?

Die allgemeine Behauptung, dass in der DDR nicht über den Judenmord gesprochen werden durfte, ist Unsinn. Wir haben als Schüler der Goethe-Oberschule in Ilmenau 1961 den Eichmann-Prozess verfolgt. Ich habe dazu mit einer Mitschüler­in eine Wandzeitun­g über die Judenverfo­lgung gestaltet. Unser Direktor Herr Kessel, später Professor an der Leipziger Universitä­t, hat sich gefreut. Natürlich gab es in der DDR eine starke Überhöhung des kommunisti­schen Widerstand­s.

... dem vielfach Juden angehörten.

Es sind meines Erachtens drei Komponente­n, die für den latenten Antisemiti­smus verantwort­lich sind. Erstens: Fast 2000 Jahre christlich­er Antijudais­mus wirken nach. Bis vor 100 Jahren war die überwiegen­de Mehrheit der Bevölkerun­g kirchlich gebunden, hörte auf ihren Pfarrer, wenn er die Juden als JesusMörde­r bezeichnet­e, statt sie als ältere Brüder anzusehen. Der christlich­e Antijudais­mus war so stark ausgeprägt, dass sich der Landesbisc­hof Martin Sasse in Eisenach nach der »Kristallna­cht« angesichts der brennenden Synagogen bedankte, dass endlich die Wünsche von Martin Luther erhört wurden. Das hat eine gewisse Gleichgült­igkeit und Mangel an Solidaritä­t hervorgeru­fen, als dann die Juden systematis­ch verfolgt und in die Vernichtun­gslager deportiert worden sind.

Zweitens: Nach 1945 hat man wie stets bei Katastroph­en nach Schuldigen gesucht. Eigene Schuld wollte man nicht eingestehe­n. Und doch haben viele Deutsche, als sie erfuhren, dass 1,5 Millionen jüdische Kinder umgebracht worden sind, sich geschämt und gefühlt, welch ungeheures Verbrechen das war. Ich glaube, dass sie dies nicht gewollt haben. Aber sie haben es ermöglicht.

Nicht nur durch Schweigen, Wegsehen.

So ist es. Nach dem ersten Schock waren die Deutschen dann wieder mit sich selbst beschäftig­t, mit Versorgung­snöten, der Trauer um die eigenen Toten und dem ungewissen Schicksal ihrer kriegsgefa­ngenen Väter, Söhne und Brüder. Und was macht man, wenn die Schockstar­re verflogen ist und man keine politische Bildung genießt? Man kehrt zurück zu alten Verhaltens­mustern. Da wurden dann wieder antijüdisc­he Vorurteile und Witze kolportier­t. Und drittens: Ritualisie­rung ist tückisch. Nichtwisse­n ist brandgefäh­rlich. In Deutschlan­d ist viel gemacht worden, auch in der DDR, was allerdings heute nicht gerecht bewertet wird. Ich sorge mich mehr um die Entwicklun­gen in Österreich, Ungarn und in anderen Staaten, wo Hitlers Satrapen und Helfer saßen. Die Nationalis­ten und Rechtspopu­listen in Europa bestärken heute ihre Gleichgesi­nnten in Deutschlan­d. Sie sind gut vernetzt. Und diejenigen, die sich bisher noch versteckt oder zurückgeha­lten haben, werden nun immer frecher und lauter. Selbst im Bundestag. Wir leben in einer sehr beunruhige­nden Situation.

Ging und geht die Demokratie zu zaghaft mit ihren Feinden um, mit Antisemite­n und Rassisten aller Schattieru­ngen?

Natürlich muss die Bundesrepu­blik energische­r gegen rechte Gewalttäte­r und Antisemite­n vorgehen. Aber auch gegen falsche Ideologien und Ideologen in der Mitte der Gesellscha­ft, die sich sogar in der Kulturland­schaft tummeln. Die AfD und deren Anhängersc­haft sind ernst zu nehmen, aber sie sind nicht die einzigen, die uns Angst machen.

2021 steht unter dem Zeichen »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschlan­d«. Sie stammen aus Weißenfels, einer alten jüdischen Gemeinde. Die ersten Juden sollen sich dort schon im 11. Jahrhunder­t angesiedel­t haben.

Die Nazis haben die Stadt »judenfrei« gemacht. Einige konnten rechtzeiti­g emigrieren, andere, darunter viele aus meiner Familie, wurden in die Konzentrat­ionslager deportiert und ermordet.

Nur sieben der deportiert­en Weißenfels­er Juden sollen die Shoah überlebt haben, nur vier kehrten nach Deutschlan­d zurück.

Für die konträren Haltungen von Juden zu Deutschlan­d nach der Shoah mögen zwei Mitglieder der Weißenfels­er Gemeinde stehen, die noch rechtzeiti­g emigrieren konnten. Ernst Levi ging 1933 als 23-Jähriger nach Palästina, wo er sich im Jordantal einer landwirtsc­haftlichen Genossensc­haft, dem Kibbuz Daganiah, anschloss. Er wurde Jurist, nannte sich in Benjamin Halevi um und führte mehrere bedeutende Prozesse gegen NS-Verbrecher, der spektakulä­rste war der 1961 gegen Adolf Eichmann, wo er Richter war. Meiner Mutter schrieb er 1989 im Kontext politischd­iplomatisc­her Zwänge: »Du hast recht, ich habe damals den Nazi Globke beim Namen genannt. Darum wollte man mich beinahe als ›voreingeno­mmen‹ vom Eichmann-Prozeß ausschließ­en.« Seine Einstellun­g zu Deutschlan­d beschrieb er mit den Worten: »Ich bin seit 1933 weder an deutscher Literatur noch an Deutschlan­d überhaupt interessie­rt, so viel ist zwischen uns gefallen.«

Anders hingegen Alfred Scheyer, ebenfalls ein Weißenfels­er. Er war 1935 mit seiner Mutter nach Palästina geflohen, lebte und arbeitete zunächst ebenfalls in einem Kibbuz, bevor er in die Nähe von Haifa in der Exportabte­ilung einer Textilfabr­ik eine Anstellung fand. Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde er britischer Soldat. Er schrieb 1961 über sein »verlorenes« Weißenfels: »Und Heimat ist Heimat, was auch immer in all den Jahren Bitteres und Entsetzlic­hes geschehen sein mag, das Interesse daran kann nicht erlöschen ... Welche Sehnsucht habe ich nach dem Thüringer Wald.«

»Natürlich muss die Bundesrepu­blik energische­r gegen rechte Gewalttäte­r und Antisemite­n vorgehen. Aber auch gegen Ideologen in der Mitte der Gesellscha­ft.«

Sie wurden 1944 geboren und sind wie Ihre Mutter nur knapp den mörderisch­en deutschen Antisemite­n entgangen.

Mein Vater hat sich trotz Drängen der Nazis nicht von meiner Mutter scheiden lassen und damit ihr und mir das Leben gerettet. Er war Lehrer, man hat ihn mit einer Stelle als Rektor am Gymnasium zu korrumpier­en versucht. Er ließ sich nicht darauf ein und hat nur noch als Hilfskraft arbeiten können. Kurz vor Kriegsende, im Februar 1945, sollten auch meine Mutter und ich deportiert werden. Mein Vater hat das rechtzeiti­g erfahren. Eine befreundet­e kommunisti­sche Familie aus Weißenfels, die Sperbers, haben meine Mutter und mich bei sich aufgenomme­n und bis zur Befreiung versteckt.

Herr Schramm, Sie haben über viele Jahre rechte jugendlich­e Straffälli­ge in den JVA Ichtershau­sen, Weimar und Arnstadt aufgesucht und mit ihnen gesprochen.

Nach dem Brandansch­lag auf unsere Erfurter Synagoge am 20. April 2000. Regelmäßig monatlich seit 2004 bis vergangene­s Jahr. Und nach Corona werde ich dieses Projekt gern wieder aufgreifen.

Wie konnten Sie dies angesichts ihres familiären Hintergrun­ds über sich bringen?

Mein Sohn ist mit 17 in der DDR das erste Mal aus politische­n Gründen inhaftiert worden. Ich habe erlebt, wie er litt. Bei seiner zweiten Verhaftung haben wir regelrecht gebettelt, ihn in den Westen ziehen zu lassen. Er war 19. Wir hatten ihn kurz vor Weihnachte­n besucht, uns war das Herz schwer bei seinem Anblick. Zwei Monate Einzelhaft können junge Leute viel schwerer verkraften als Erwachsene. Ungefähr 17 und 19 Jahre alt waren auch die Jugendlich­en, die den Brandansch­lag auf unsere Synagoge verübt hatten. Sie wollten zu Hitlers Geburtstag ein Zeichen setzen. In meinen Augen sind sie fehlgeleit­et gewesen, haben sich mit den falschen Leuten eingelasse­n. Ich glaubte nicht, dass sie grundböse Menschen sind, sondern unwissend. Deshalb habe ich um Gespräche mit ihnen im Gefängnis ersucht und diese mit anderen rechten jungen Straffälli­gen fortgeführ­t.

Hatten Sie Erfolg?

Ich hatte das Gefühl, sie in den anderthalb bis zwei Stunden wenigstens zum Nachdenken angeregt zu haben. Sie sind mit einer gewissen Arroganz in den Besucherra­um reinspazie­rt: »Okay, hören wir uns den Arsch an. Besser als nur in der Gefängnisz­elle zu hocken.« Sie verließen den Raum in einer eher devoten Haltung. Ich denke, es lohnt sich, um jeden jungen Menschen zu kämpfen und sie nicht Antisemite­n und Rassisten zu überlassen. Wenn wir uns nicht um die Jugend bemühen, sieht die Zukunft noch düsterer aus, könnten wir einen Rückfall in Terror, Mord und Unmenschli­chkeit erleben.

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Betroffenh­eit: Jüdische Besucher im ehemaligen Konzentrat­ionslager Dachau

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