Sleepy Joe auf der Überholspur
Seit 100 Tagen ist Biden US-Präsident und überrascht mit progressiver Politik
Berlin. Dafür, dass Joe Biden nur als Zwischenpräsident gilt, als der Kandidat, von dem die Wählerinnen und Wähler am wenigsten überrascht werden und so nach den chaotischen Jahren unter seinem Vorgänger Donald Trump nun Ruhe und Stabilität erwarten können, dafür legt der neue US-Präsident ein beachtliches Reformtempo hin. An diesem Freitag ist Joe Biden 100 Tage im Amt, davor zieht er Bilanz. Einst wurde er als »Sleepy Joe« (»lahmer Joe«) verlacht. Doch nun hat der Demokrat sein erstes 1,9 Billionen US-Dollar schweres Konjunkturpaket durchgesetzt, dazu treibt er Billionenschwere Investitionspakte in Infrastruktur und in soziale und Care-Arbeit voran. Die Wirtschaft kommt nach dem Corona-Einbruch weiter in Schwung, und im Land wurden 200 Millionen Covid-Impfdosen verteilt – 40 Prozent aller US-Amerikaner*innen haben schon eine Impfung bekommen.
Allerdings, auch das gehört zur Gegenwart der USA, hat er es mit einer sozialen Spaltung des Landes zu tun, die die Vereinigten Staaten schon lange vor Trump entzweit hatte. 54 Prozent Zustimmung, 41 Prozent Ablehnung – nur zwei Präsidenten vor ihm hatten nach 100 Tagen im Amt schlechtere Umfragewerte: Gerald Ford und Bidens direkter Vorgänger Trump. Der hatte seinerseits die 100-Tage-Bilanz als »künstliche Schranke« kleinzureden versucht, nachdem er wenig von seinem »100-Tage-Aktionsplan« umgesetzt hatte.
Dass Biden seine Politik, die von vielen Linken und Progressiven gelobt wird, so durchsetzen kann, liegt vor allem an der Pandemie. Zusammen mit Bernie Sanders arbeitet der Präsident an einem für US-Verhältnisse riesigen Umbau des Landes, wobei abzuwarten bleibt, inwiefern es die Republikaner schaffen, ihn auszubremsen. In einem Politikbereich bleibt alles beim Alten: Auch unter Biden erreichen die USA einen neuen Rekord bei Militärausgaben.
In seinen ersten 100 Tagen im Amt überraschte Joe Biden mit einer progressiven Politik, die er auch in Zusammenarbeit mit dem Demokratischen Sozialisten Bernie Sanders vorantreibt. Nur in der Außenpolitik bleibt Biden seinen Vorgängern treu.
Sie konkurrierten 2020 um die Präsidentschaft, standen sich im Senat politisch fern, gingen aber schon dort respektvoll miteinander um. Nun arbeiten Präsident Biden und der Chef des Haushaltsausschusses Sanders eng zusammen.
Joe Biden, ein halbes Jahrhundert in der Politik und zweimal vergebens zur Präsidentschaft angerannt, ehe er als bisher ältester Chef im Weißen Haus landete, weiß um die gesellschaftliche Krise der USA. Der neue Präsident, der im Ruf steht, ein schwacher Redner, häufiger Fettnapf-Sucher und Inbegriff des Washingtoner Establishments, aber auch emotional intelligent, bescheiden und Team Player zu sein, sucht erkennbar einen Neuanfang für Land und Politik. Seine nun ersten 100 Tage – nehmen Sie nur Bidens Telefonat bei der Familie von George Floyd nach dem Urteil gegen dessen Mörder – bescherten manch Überraschung, die man ihm so nicht zugetraut hätte.
Sowohl das Corona-Rettungspaket als auch das geplante Infrastruktur- und Klimaschutzprogramm sind Weichenstellungen, die an Reformpräsident Franklin D. Roosevelt (New Deal) erinnern. In manchen Punkten, wie der Bereitschaft zur Staatsverschuldung, gehen sie sogar über »FDR« hinaus und in vielen Punkten entschieden weiter als Barack Obama, dessen Schatten sein einstiger Vize ebenfalls verlassen will. Eine Überraschung ist dabei die bisher produktive Zusammenarbeit von Biden und dem linken Senator Bernie Sanders. Sanders, der sich als demokratischer Sozialist versteht, und sein früherer Senatskollege Biden, den Sanders stets kritisierte, bilden heute ein Paar auf Bewährungsprobe:
Sie konkurrierten 2020 um die Präsidentschaft, standen sich im Senat politisch fern, gingen aber schon dort pfleglich miteinander um – zwei weiße alte Männer, die im September 80 (Sanders) bzw. November 79 werden (Biden).
Der Präsident hat Sanders nicht ins Kabinett geholt, obwohl der nur zu gern Arbeitsminister geworden wäre. Zwar frohlockte Biden, den Sozialisten besiegt zu haben. Doch er weiß auch, ohne den linken Flügel hätten die Demokraten Donald Trump nicht besiegt. Biden benötigt den parteiunabhängigen Sanders und die linken Demokraten. Aber er braucht Sanders auch weiter im Senat, wo zwischen Demokraten und Republikanern ein Patt besteht und nur Vizepräsidentin Kamala Harris, zugleich Senatspräsidentin, eine Minimehrheit sichert. Auch deshalb wohl wollte Biden Sanders lieber im Senat als am Kabinettstisch haben – und machte ihn zum Chef des Haushaltsausschusses. Von diesem schlagzeilenarmen, aber einflussreichen Posten arbeitet Sanders mit dem Präsidenten bislang geräuschlos zusammen.
Bidens innenpolitische Programme sind der Versuch eines großen Wurfes, mitgeprägt von Forderungen, die Bernie Sanders seit Jahren stellt. Wenn Biden vom dringlichen Aufbruch für Amerika spricht, meint er auch die Anerkennung der von Sanders gerade wieder geäußerten Erkenntnis, dass die USA »nicht florieren und lebendige Demokratie bleiben können, wenn so wenige so viel und so viele so wenig haben. Die traurige Realität ist, dass wir uns schnell auf eine oligarchische Gesellschaftsform zubewegen.« Die obszöne Ungleichheit, die Sanders geißelt, entgeht Biden nicht, weshalb er ebenfalls daran erinnert, dass die zwei reichsten Amerikaner, Jeff Bezos und Elon Musk, mehr als die unteren 40 Prozent aller Bürger zusammen besitzen. Biden wie Sanders wissen, was sie ins Visier nehmen müssen: die Mächtigsten im Land, Wall Street sowie Öl- und Gas-Industrie, die Krankenversicherungs- und Pharmariesen. Der Senator zählt auch den militärisch-industriellen Komplex hinzu, was Biden bisher nicht tut. Dafür zeigt er sich offen für Sanders’ Forderung, den nationalen Stundenmindestlohn von 7,25 auf 15 US-Dollar anzuheben. Der Vorstoß ist im Senat kürzlich zwar gescheitert, aber das Thema bleibt in der Welt, ebenso wie beider Forderung, Arbeitern den Beitritt zu Gewerkschaften zu erleichtern oder Sanders’ Kernziel, allen Amerikanern Gesundheitsversorgung als Grundrecht zu garantieren.
Das Portal »Politico« schrieb zu Sanders’ Drängen, einen höheren Mindestlohn im Rettungspaket zu verankern, er habe »stets darauf geachtet, das Weiße Haus über jeden Schritt zu informieren«. Der Regierung wiederum sei wichtig gewesen, dass Sanders von einem Video erfährt, in dem Biden die Forderung von Amazon-Beschäftigten unterstützt, sich zu organisieren. Unmittelbar nach Veröffentlichung des Videos, so »Politico«, äußerte Bernies Team Anerkennung für Biden. Und als Sanders Alternativen prüfte, um den höheren Mindestlohn doch noch in den finalen Gesetzentwurf zu bringen – was fehlschlug – kam es zu keinem Bruch zwischen Senator und Weißem Haus. »Es gibt gute Gespräche zwischen Sanders und dem Stabschef des Weißen Hauses, Ron Klain«, sagte Sanders-Berater Faiz Shakir. »Von der Lohnbis zur Gewerkschaftsfrage bei Amazon ist das Verhältnis von beidseitigem Respekt geprägt. Wann immer wir etwas zu Sachfragen glaubten beitragen zu können, hatten wir das Gefühl, im Weißen Haus eine offene Tür zu finden.«
In der Vergangenheit war Sanders oft frustriert, dass viele seiner Forderungen von Konkurrenten quasi ohne Quellenangabe aufgenommen wurden. Seit sich unter den »Kaperern« auch der 46. Präsident der USA befindet, ist Sanders zu weise, darüber zu klagen. »Politico« zog neulich dieses erste Fazit: »Die Bernie-Biden-Beziehung funktioniert auch unter Belastung. Bei den Kämpfen um Arbeitsrechte und Lohnpolitik, die die Demokraten führen, haben sich die beiden auf dem Laufenden gehalten, ermutigt und behutsame Erklärungen abgegeben, um Frieden und Zusammenarbeit zu sichern. Das widerspiegelt die Einsicht, dass die Seiten einander brauchen. Zum anderen zeigt es den Wunsch, alte Fehler zu vermeiden. Senatskollegen äußern, Sanders beweise jetzt, dass er im Senat ebenso wie mit einem Demokraten im Weißen Haus kooperieren kann. ›Bernie ist seit langem im Bauen von Bewegungen geübt, und es war immer unfair zu behaupten, er wisse nicht, wie man im Kongress effektiv arbeitet‹, sagte Demokraten-Senator Brian Schatz aus Hawaii.«
Wie lange der gegenseitig gute Willen vorhält, werden die – garantiert – kommenden Schlachten zeigen. Ohne zu beschönigen: Das seltsame Paar zeigt sich bisher auch als sorgsames Paar. Es könnte Amerika guttun.
Der Präsident hat Sanders nicht ins Kabinett geholt, obwohl der nur zu gern Arbeitsminister geworden wäre.