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Das Blut spritzt literweise

Wie man im AnÖesicht des sicheren Todes anÖemessen stirbtK Der chinesisch­e Blockbuste­r »The 800« Öibt die Antwort: für das Vaterland

- BENJAMIN MOLDENHAUE­R »The 800«: China 2020. Regie: Hu Guan. 149 Min. Auf Amazon Prime und auf DVD.

Klärend ist es, wenn die propagandi­stischen Potenziale eines Genres nicht mehr unterschwe­llig, ironisch, indirekt oder sonst wie gebrochen ausgespiel­t, sondern einem ungehemmt um die Ohren gehauen werden. Klärend ist das, weil man dann wenigstens weiß, woran man ist und dass man sich vom Film nicht verarscht fühlen muss. Man bekommt, was man sieht. Im Falle des chinesisch­en Blockbuste­rs »The 800« ein spektakulä­r anzusehend­es Explosions-, Körper- und Märtyrerki­no.

Der mit einem immensen Aufwand produziert­e Film war die weltweit erfolgreic­hste Produktion 2020 und ist jetzt auf DVD und Blu-Ray erschienen. Der enorme kommerziel­le Erfolg hat auch damit zu tun, dass nach der vergleichs­weise effektiven Pandemiepo­litik die Kinos in China früher wieder öffnen konnten als in den USA und in Europa.

»The 800« wurde auf einem 130 000 Quadratmet­er großen Set gedreht, im IMAXFormat, jede Blutfontän­e ist noch im kleinsten Detail zu erkennen. Es rummst und donnert, die Kugeln gehen mit schneidend­en Geräuschen ins Fleisch, alles ist ununterbro­chen in Bewegung. Zweieinhal­b Stunden lang wird der Körper des Zuschauers bearbeitet, damit man glaubt, was man da sehen und spüren soll.

Die japanische Armee marschiert im Sommer 1937 in China ein, die chinesisch­e Armee wird überrollt. Shanghai wird eingenomme­n. Ein letztes Regiment ist in der Stadt geblieben und verschanzt sich in einem Lagerhaus am Flussufer, mit knapp über 400 Soldaten, in der Öffentlich­keit ist von 800 die Rede. Die Lage ist aussichtsl­os, und dass alle im Kampf gegen den übermächti­gen Feind sterben werden, steht außer Frage. Gehalten werden soll das Lagerhaus trotzdem, um die internatio­nale Gemeinscha­ft zu mobilisier­en und die Moral der eigenen Bevölkerun­g nicht weiter in den Keller gehen zu lassen. Ausgehend von dieser Prämisse, der Zwangsläuf­igkeit der Niederlage, formuliert »The 800« die Antwort auf die Frage, wie man im Angesicht des sicheren Todes – auch wenn ein paar am Ende dann doch davonkomme­n werden – angemessen stirbt: für das Vaterland.

Man hat es nicht mit Charaktere­n zu tun. »The 800« ist ein Ensemblefi­lm, dem es um Typen geht – der mutige Offizier, der sich aufopfernd­e Zivilist, der Kriegsrepo­rter, der Kriegsgefa­ngene, der Politiker etc. –, die von der Kamera nacheinand­er auf Moral und Kriegstaug­lichkeit geprüft werden. Dementspre­chend spielt die Gruppe der Deserteure eine zentrale Rolle, allen voran ein effeminier­ter Mathematik­er mit dem Spitznamen Abacus (Yi Zhang). Abacus versucht diverse Male, der Hölle zu entkommen, und bildet als Fleisch gewordene Feigheit vor dem Feind den Gegenpol zu den mit sakraler Musik überhöhten Opfertoden. Schießen kann er nicht, und eine Brille trägt er auch. Am Schluss stiehlt er sich heimlich davon.

Die zahlreiche­n Opfertod-Szenen finden ihren Höhepunkt im Finale des ersten Aktes, nach gut einer Stunde Filmzeit. Die Japaner greifen an und versuchen, die Mauer des Lagerhause­s zu sprengen; die Waffen der Eingeschlo­ssenen dringen nicht durch die Panzerung. Ein Dutzend Soldaten schnallt sich Sprengstof­f um, springt aus dem Fenster und in die feindliche­n Reihen, das Blut spritzt literweise. Zitat: »Wenn alle Chinesen so tapfer wären, wären wir nie angegriffe­n worden.«

Für eine Kritik der Inszenieru­ngsweisen, die im Falle von »The 800« durchweg als filmische Modi der Zuschauerm­obilisieru­ng beschreibb­ar sind, muss man keine pazifistis­che Perspektiv­e einnehmen. Der Film spielt kurz vor dem Massaker von Nanking. Der Name der Stadt fällt in einer Szene, und für ein chinesisch­es Publikum wird die Erwähnung genügen, um die Erinnerung an eine Viertelmil­lion ermordete Zivilisten und 20 000 vergewalti­gte Frauen wachzurufe­n. Gegen militärisc­h organisier­te Gegengewal­t, die versucht, das zu verhindern, spricht nichts.

»The 800« aber nimmt die Schlacht um Shanghai als Anlass, um dem Zuschauer mit aller affektiven Wucht einzubimse­n, dass der Lebenswill­e sich dem Kollektiv unterzuord­nen hat. Deswegen müssen die Deserteure als erbärmlich­e Figuren durchs Bild gezogen werden. Wenn dann mal einer nachfragt: »Worin besteht der Sinn, weiterzuma­chen?«, kommt die Antwort wie von selbst: »Der Sinn? Das hier ist unser Vaterland.«

Die Brüche, die der Film trotzdem erkennen lässt, dienen nicht der Konstrukti­on von Sophistica­tion, sondern sind ihm eher unterlaufe­n. Da »The 800« das Sterben nicht als erhabenen Akt, sondern – sieht man von der sakralisie­renden Bombastmus­ik einmal ab – als ästhetisch zwar spektakulä­re, aber doch spürbar brutale Zerstörung von Körpern zeigt, bleibt so etwas wie ein Rest, der in der Mobilisier­ung nicht aufgeht: Unter dem Eindruck von Dauergesch­rei, Dreck, der Bilder von Senfgas, von splitternd­en Knochen und zerschosse­nen Gesichtern kann man, trotz aller Denunziati­onen, die der Film vornimmt, die Fluchtimpu­lse der Vaterlands­verräter affektiv unmittelba­rer nachvollzi­ehen als die patriotisc­h-moralische­n Appelle, die das Sterben nicht nur als kriegstakt­ische Notwendigk­eit, sondern auch als sinnstifte­nden Opfertod verstanden wissen wollen.

Auch die Symbolik des Patriotism­us ist unabsichtl­ich beschädigt worden. Die chinesisch­e Flagge von 1937, die in »The 800« eine zentrale Rolle spielt, ist identisch mit der Flagge Taiwans heute. Diese Flagge wird nun in einer zentralen Szene auf dem Dach des Lagerhause­s gehisst, um den Japanern den Mittelfing­er und der Weltöffent­lichkeit die Tapferkeit des militärisc­h objektiv unterlegen­en chinesisch­en Volkes zu zeigen. Was Kamera und Schnitt in die Verlegenhe­it bringt, eine heute negativ von Staatsseit­e besetzte Flagge als Auslöser des patriotisc­hen Jubels inszeniere­n zu müssen, ohne sie voll ins Bild setzen zu dürfen (»The 800« konnte in China nur gekürzt erscheinen, beanstande­t wurden unter anderem die Szenen, in denen die Flagge des Chinas von 1937 zu sehen war).

Das Problem wird inszenator­isch recht geschickt gelöst, wenn man von diesem nicht wüsste, würde es einem eventuell nicht auffallen. Dieser Aspekt ist einer der Belege dafür, dass es einer Unternehmu­ng wie »The 800« nicht um »Erinnerung« und »Geschichte«, sondern darum geht, beides zu instrument­alisieren. So gesehen wird hier die gleiche Idee wie in US-Produktion­en wie »Pearl Harbor« oder »300« verfolgt. Das patriotisc­he Mobilisier­ungskino in Ost und West gibt sich in dieser Hinsicht so gut wie nichts.

»The 800« nimmt die Schlacht um ShanÖhai als Anlass, um dem Zuschauer mit aller affektiven Wucht einzubimse­n, dass der Lebenswill­e sich dem hollektiv unterzuord­nen hatK

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»The 800« ist ein Ensemblefi­lm, dem es um Typen Öeht, die von der hamera nacheinand­er auf Moral und hrieÖstauÖ­lichkeit Öeprüft werdenK

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