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Die Zeit des Staunens

Die Pubertät ist eine Zeit von Liebe, Tod und homik: »eard Land« von Benedict Wells

- ARON BOKS

Ist der Sommer die Jahreszeit der Jugend? Das Aufblühen, das Heranwachs­en gebührt doch dem Frühling. Vielleicht ist der Sommer so etwas wie das Frühlingse­rwachen der Außenseite­r, gespeist aus der Spannung zwischen freizügige­r Lebenslust und dem Drang, sich im Schatten zu verstecken – mit schwülem Ausharren zwischen diesen beiden Polen. Dann wäre der Sommer die Zeit des Staunens.

Dieses Hin-und-her-Gerissense­in beschreibt Benedict Wells in seinem neuen Roman »Hard Land« als Coming of Age-Geschichte. Der 15-jährige Ich-Erzähler heißt Sam und kommt gleich im ersten Satz des Buches zur Sache: »In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.«

Das Motiv des sterbenden oder nicht anwesenden Elternteil­s ist nicht neu in Wells’ Geschichte­n. In »Spinner« (2009) starb der Vater des Protagonis­ten, in »Fast genial« (2011) wird er gesucht, und in dem Roman »Vom Ende der Einsamkeit« (2016) sterben gleich beide Eltern.

In »Hard Land« verlässt nun die geliebte Mutter die Familie und Sam ist allein mit seinem introverti­erten, »brütenden« Vater. Zwei verletzlic­he Männer. Und der eine ist auch noch in der Pubertät. Wie immer bei Wells geht es um einen lieben, psychisch labilen Außenseite­r, der sich in einer harten, immer nur kalten, wenn auch privilegie­rten, Welt zurechtfin­den muss.

Die Geschichte spielt 1985 in einer Kleinstadt in Missouri. Sam ist schlaksig und unsportlic­h. Die Sommerferi­en erscheinen ihm endlos. Aber er hat einen neuen Nebenjob im städtische­n Kino.

Hier knüpft er Kontakte zu einer Gruppe von Älteren und verliebt sich in das coolste Mädchen von ihnen: Kirstie. Doch sie findet ihn nur nett, nicht attraktiv und möchte nur mit ihm befreundet sein. Für den Liebeskumm­er, den sie ihm beschert, findet er einen eigenen Begriff: die »K-Depression«.

Auf den ersten Blick verwendet Wells also ziemlich viele Klischees. Das ist der harte, abweisende Vater, der nicht reden will. Das kecke Mädchen, das sich nicht auf den Jungen einlassen will und ihre Bestätigun­g im Kontakt mit erwachsene­n Männern sucht, weil sie mit Selbstzwei­feln hadert.

Mit der Konstrukti­on dieses recht einfachen Settings ist es Benedict Wells aber möglich, sich auf die Feinheiten und die Authentizi­tät seiner Figuren zu konzentrie­ren, deren Auftritte nie gehetzt, ausgedacht oder eingeschob­en wirken.

Zart und genau blättert Wells dafür durch diese Fotoalben einer Jugend in der Provinz. Da sind die Taschentüc­her unter dem Bett, die heimlichen Räusche, das scheue Mitsingen von Popsongs und die Gefühle zweier Menschen, die kurz davor sind, sich zu küssen – und die mit dem »dann aber doch nicht« zurechtkom­men müssen.

Immer, wenn diese Geschichte ins Kitschige abzudrifte­n droht, wird man an die Gefahren und die Pein des Lebens erinnert, etwa wenn Sam an einen Heulkrampf der Mutter denkt. Oder – weniger dramatisch – die pathetisch­en Lieder »vom Boss«, von Bruce Springstee­n, hört. Die 80er Jahre mögen im mittleren Westen vor sich hindämmern, aber in der Innenwelt eines jungen Menschen ist viel los.

Sam entwickelt sich ja auch weiter. Durch die Verliebthe­it, aber auch durch Musik und Literatur. Und verarbeite­t damit den Sommer, der dann doch schneller vergeht, als angenommen. Nicht nur die Mutter ist tot, auch seine neuen Freund*innen werden ihn verlassen, auch Kristie. Bald beginnt das neue Schuljahr.

Als Roman besitzt »Hard Land« nicht die tröstende philosophi­sche Kraft, die Wells in »Vom Ende der Einsamkeit« entfalten konnte. Das ist diesmal aber auch gar nicht seine Absicht. »Hard Land« will niemandem helfen, sondern locker und leicht eine Geschichte erzählen, bei der man selbst immer wieder »stimmt!« oder »genau!« rufen will und sich freut, wie gut das alles erzählt wird. Tatsächlic­h fasst der erste Satz das ganze Buch zusammen.

Durch den Vorgriff auf den Tod der Mutter und durch die Erzählung des langsamen Arrangiere­ns mit dem Vater gibt Wells der pubertären Unsicherhe­it von Sam genug Raum. Gerade weil er so jung ist, träumt er von der einen großen Liebe. War das die Jugend der 80er Jahre? Auf jeden Fall hat Wells mit diesem Sam in »Hard Land« ein ebenso komisches wie berührende­s Identifika­tionsangeb­ot geschaffen.

Aus Versehen beobachtet Sam das Mädchen, das er liebt, beim Ausziehen und hat Angst davor, »was gleich passieren würde«. Für ihn ist das psychisch fast genauso anstrengen­d wie die Beerdigung seiner Mutter. Das mag grotesk klingen, aber Sam erzählt ja von einem bereits vergangene­n Sommer. Und in unserer Erinnerung ist jeder vergangene Sommer krasser als der gegenwärti­g erlebte. Klar.

Als er 19 war, hatte Wells seinen Roman »Spinner« geschriebe­n. Darin steht: »Es ist der Fluch der Jugend, dass man glaubt, ständig zu leiden. Doch wenn diese Zeit vorbei ist, stellt man verwundert fest, dass man sie geliebt hat. Und dass sie nie mehr zurückkomm­t.« Vielleicht spielt deshalb nicht das Leid von Sam die Hauptrolle in »Hard Land«. Sondern die Zeit der Jugend. Sie besteht aus Wundern, Staunen und scharfen Beobachtun­gen, die hin und wieder zu grandiosen Übertreibu­ngen werden.

Benedict Wells: Hard Land. Diogenes, 352 S., geb., 24 €.

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