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Im Ausnahmezu­stand

Albert Espinosas Serie »Alive and hickinÖ« erzählt von einer juÖendlich­en Schicksals­Öemeinscha­ft

- JAN FREITAG »Alive and Kicking« läuft auf Magenta TV.

Ein Dilemma realistisc­her Fiktion besteht darin, den Blick auf die Wirklichke­it zu trüben. Da unser Fernsehen von früh bis spät voller Morde ist, wird die Kriminalit­ätsstatist­ik oft um ein Vierfaches überschätz­t. Da das Schnulzenf­ernsehen seine Darsteller dagegen ständig an sorglose Urlaubsort­e schickt, gelten Probleme darin als inexistent. Auch die spanische Magenta-Serie »Alive and Kicking« beginnt folglich mit fröhlichen Kids im Sonnensche­in – was man von einer Ferieninse­l wie Menorca in einer Fernsehser­ie, die übersetzt »gesund und munter« hieße, halt erwartet.

Im Vorspann tollen vier Jugendlich­e im Pool und skaten lässig durch Altstädte. Schön. Aber der Schein trügt. Denn kurz darauf zoomt die Kamera auf einen davon, und das Licht verschwind­et. Statt Urlaubseri­nnerungen schildert der 14-jährige Mickey die Sinnlosigk­eit des Lebens, hält sich dann einen Revolver an den Kopf und drückt ab. Die Waffe ist zwar nur Requisit eines therapeuti­schen Rollenspie­ls von Dr. del Álamo, in dessen Obhut Mickey sich befindet, doch auch ohne Schuss wird ab der ersten von sieben Folgen klar: Die Psychiatri­e im Grünen sorgt bei den Insassen für Fluchtimpu­lse – Menorca hin oder her.

dewalttäti­Ö, obsessiv, unberechen­bar: Im eiÖenen Weltbild sind das nur die anderenK Pubertät ebenK

Deshalb reißt der bipolare Teenager aus und nimmt drei Gleichaltr­ige mit: den neurotisch­en Vielfraß Sam, die depressive Rollstuhlf­ahrerin Guada und den aggressive­n Neuling Yeray. Gemeinsam begibt sich das Quartett auf die Odyssee nach Ischia, wo Mickeys Bruder ein Hotel betreibt. Diese heiterbedr­ückende Mischung aus Coming-of-Age und Ausbruchsd­rama macht »Alive and Kicking« zum spanischen »Club der roten Bänder«, mit Fragmenten von »Einer flog über das Kuckucksne­st« und »The End of the F***ing World« .

Anders als in Miloš Formans Nervenanst­altsdrama sind die Betreuer allerdings nicht irrer als ihre Patienten, sondern rührige Pädagogen. Und anders als in der Netflix-Serie entfliehen jugendlich­e Außenseite­r hier nicht dem Korsett einer Normalität, die alles Unnormale sozial ausgrenzt; Mickey, Guada, Sam und Yeray sind seit jeher sozial Ausgegrenz­te einer Gesellscha­ft, die alles Unnormale hinter Mauern aus Sedativen, Disziplini­erung und falschem Mitgefühl steckt.

Keiner könnte dieses Gefühl jugendlich­er Dissidenz glaubhafte­r machen als Drehbuchau­tor Albert Espinosa. Sein biografisc­her Film »Planta 4ª« diente dem deutschen »Club der roten Bänder« einst als Vorbild – und zwar aus eigener Krebserfah­rung heraus, die ihn als Kind ans Bett diverser Kliniken fesselte, in denen sich Schicksals­gemeinscha­ften wie jene bei »Alive and Kicking« bildeten. Dieses desperate Zusammenge­hörigkeits­gefühl erzählt Espinosa mit einem Gespür fürs Kollektiv im

Ausnahmezu­stand, das sich selbst in feindselig­er Umgebung behauptet.

Verfolgt vom Privatdete­ktiv Izan (Miki Esparbé) und dem schizophre­nen Klinikinsa­ssen Lucas (Héctor Pérez), die ihnen der ehrgeizige Klinikchef Álamo (Àlex Brendemühl) auf den Hals hetzt, finden die Flüchtigen aber nicht nur ein Stück Freiheit, sondern bald auch sich selber. Und dabei ist es Roger Guals behutsamer Regie zu danken, dass seine Darsteller nicht nur ernstere Versionen von Pippi, Tommi und Annika auf der Flucht im fliegenden Auto sind. Obwohl die Momente der Lebenslust mitunter seifig geraten, sind Álvaro Requena (Mickey), Sara Manzano (Guada), Marco Sanz (Yeray) und Aitor Valadés (Sam) ja keinesfall­s Sympathiet­räger.

Schließlic­h haben sie weder Gespür noch Verständni­s dafür, warum die Welt nicht mit ihnen klarkommt. Gewalttäti­g, obsessiv, unberechen­bar: Im eigenen Weltbild sind das nur die anderen. Pubertät eben – maximale Selbstbezo­genheit bei minimaler Selbstrefl­exion. Darüber jedoch fällt Albert Espinosa kein Urteil, sondern stößt sein jugendlich­es Personal ins Meer der Erwachsene­n und sieht ihm beim Kampf mit der Brandung zu. Es sei »scheiße, jung zu sein«, sagt Yeray zu Mickey, »sie sind größer und erfahrener«. Stimmt. Bis er bemerkt, dass beides nichts mit Metern und Jahren zu tun hat, sondern mit dem gelebten Leben. Genau davon erzählt »Alive and Kicking« so aufregend, klug und berührend, dass die zweite Staffel kommen kann. Nach dem großen Erfolg in Spanien ist sie angeblich schon in Arbeit.

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Yeray (Marco SanzF, Mickey (Álvaro oequenaF, duada (Sara ManzanoF und Samuel (Aitor ValadésF aus der Serie »Alive and hickinÖ«K

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