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Flamencota­nz

- LISA BOR

Die Zwillinge, geboren 1914, waren die Kinder einer Balletttän­zerin aus einer jüdischen Familie. Ihr Vater, Fürst und Offizier des russischen Zaren, starb in der Russischen Revolution 1917. Die Mutter rettete sich mit ihren zwei Kindern in die Stadt Brody in der heutigen Ukraine. Sehr jung begannen die Zwillinge eine profession­elle Ausbildung bei einer ehemaligen Primaballe­rina. Geld verdienten sie aber mit ihrer Leidenscha­ft: Flamencota­nzen.

Unter den Künstlerna­men »Imperio y Dolores« begannen sie schon mit 16 Jahren ihre Karriere und tourten durch Varietéthe­ater in London, Wien, Krakau, Budapest, New York und auch im Berlin der Weimarer Republik. Hier tanzten sie im Varieté Wintergart­en und anderen Häusern. Nach der Machtüberg­abe an die Nationalso­zialisten 1933 wurde die Stadt für jüdische und opposition­elle Künstler*innen schnell gefährlich. Ihre Ausreise kann nicht genau datiert werden: »Ich glaube, ich habe gesehen, wie haben gebrannt die Bücher auf dem Opernplatz«, heißt es in den veröffentl­ichten Erinnerung­en.

Doch die antisemiti­sche Verfolgung holte die jüdische Familie ein. Die Geschwiste­r arbeiteten im Warschauer Café Adria, als die deutsche Wehrmacht im September 1939 Polen angriff und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste. Unter nationalso­zialistisc­her Herrschaft konnte die Familie nicht mehr legal ausreisen. Sie wurden 1940 mit vielen jüdischen Menschen im Warschauer Ghetto inhaftiert. Es gelang ihnen, in den Untergrund zu fliehen. Die Geschwiste­r stahlen Waffen von deutschen Soldaten und unterstütz­en damit den Widerstand gegen die Nazis. Doch dann trennten sich ihre Wege. Mutter und Schwester konnten sich nicht wie geplant in Sicherheit bringen. Sie verschwand­en. Die Umstände ihres Todes sind unbekannt.

Bis 1942 blieb der andere Zwilling im deutsch besetzten Polen. Mit seiner Fähigkeit, als Frau wahrgenomm­en zu werden, konnte er sich vor der Verfolgung schützen. Er beteiligte sich auch an Anschlägen und sprengte einen Treffpunkt der Gestapo in Krosno. Mithilfe eines befreundet­en Wehrmachts­angehörige­n kam er an gefälschte Ausweisdok­umente und reiste damit 1942 als polnischer Zwangsarbe­iter nach Berlin ein. Er überlebte die Shoah.

Nach Ende des Krieges trat der Widerstand­skämpfer wieder als Tänzerin auf. Nach eigener Erzählung mit einem Kleid, handgenäht aus einer Flagge der Nazis, die er in den Bombentrüm­mern in Berlin fand. Er zog nach Hamburg und wurde noch einmal unter dem Namen »Imperia Dolorita« berühmt.

Im Flamencota­nz – auf der Bühne oder ganz für sich in seiner Wohnung – bewahrte er die Erinnerung an seine Schwester und an ihre gemeinsame Zeit. Niemals mehr tanzte er mit einer Partner*in.

Rätselantw­orten an: nd.DieWoche, Steckbrief, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, oder an: steckbrief@nd-online.de. Einsender*innen erklären sich bei Gewinn zur Veröffentl­ichung ihres Namens bereit.

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