nd.DerTag

Hoffnung auf Brechen der dritten Welle

Rostock entgeht der »Bundes-Notbremse« – Kinder und Jugendlich­e sollen sich treffen können

- MARKUS DRESCHER

16 290 Corona-Neuinfekti­onen und 110 Tote – Zahlen sinken weiter

Berlin. Die zuletzt positive Entwicklun­g der Kennzahlen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie setzt sich fort. Am Sonntagmor­gen meldete das Robert Koch-Institut (RKI) 16 290 Neuinfekti­onen binnen eines Tages und 110 neue Todesfälle. Auch wenn die Angaben aus Bremen fehlen, sind das deutlich weniger als vor einer Woche, als das RKI 18 773 Neuinfekti­onen und 120 neue Todesfälle verzeichne­t hatte.

Zuletzt hatten sich Experten vorsichtig optimistis­ch gezeigt. Mobilitäts­forscher Kai Nagel von der TU Berlin rechnet nicht mehr mit einer Zunahme der Fallzahlen, Physikerin Viola Priesemann vom MaxPlanck-Institut in Göttingen geht sogar von einem zügigen Rückgang der Inzidenzen in den nächsten Wochen aus.

In Indien sind am Sonntag so viele Menschen wie noch nie in Verbindung mit dem Coronaviru­s gestorben. 3689 Todesfälle wurden laut Daten des Gesundheit­sministeri­ums registrier­t. Erst am Samstag hatte Indien mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern als erstes Land weltweit an einem Tag über 400 000 Neuinfekti­onen mit dem Coronaviru­s erfasst.

Der Däne Claus Ruhe Madsen ist Oberbürger­meister der Stadt Rostock und wurde für sein erfolgreic­hes Corona-Krisenmana­gement bekannt. Dahinter steckt auch Madsens Politikver­ständnis.

Nur gut 36 Stunden – von Donnerstag bis Freitag vergangene­r Woche – griff in der Hansestadt Rostock die »Bundes-Notbremse«. Von drei aufeinande­rfolgenden Tagen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 waren nur noch zwei übrig geblieben, nachdem sich zwölf positive Testergebn­isse im Nachhinein als falsch positiv herausgest­ellt hatten. Somit waren die Voraussetz­ungen für die erhebliche­n Einschränk­ungen wie die Ausgangsbe­schränkung­en nicht gegeben und die Notbremse wurde umgehend wieder gelöst.

Für die Rostocker*innen heißt das – im Gegensatz zu einem Großteil Mecklenbur­gVorpommer­ns und der restlichen Bundesrepu­blik – unter anderem: Sie können in den Baumarkt und nachts raus. Mehr Freiheiten – wenn auch kleine – haben als andere in dieser Pandemie, das ist keine neue Erfahrung für die Hansestädt­er, sondern eher der Normalfall. Denn auch wenn die dritte Coronawell­e keinen Bogen um Rostock gemacht hat und auch hier das Infektions­geschehen angestiege­n ist, die größte Stadt im Nordosten, und wie es hier mitunter heißt, die einzige Großstadt, die diesen Namen auch verdient, erweist sich neben einigen weiteren Ausnahmen weitaus coronakris­enfester als der große Rest der Republik. So erlaubten es die sehr niedrigen Inzidenzwe­rte in der Stadt, dass Geschäfte geöffnet bleiben konnten und es den Spielraum für Experiment­e wie etwa ein Hansa-Heimspiel vor Zuschauern gab.

In Rostock setzt man neben anderen Maßnahmen vor allem auf eine gute Nachverfol­gung von Kontakten. Auch mit Hilfe einer wegen Datenschut­zbedenken mittlerwei­le hoch umstritten­en App. »Wir alle sind Gesundheit­samt: Mit der luca-App«, heißt es auf der Homepage der Stadt. Der Oberbürger­meister wird mit den Worten zitiert: »Mit digitalen Lösungen wie der luca-App wollen wir die Kontakterf­assung komplett neu denken. Zudem werben wir dabei für Kontaktbes­chränkunge­n durch eine Terminverg­abe. So kann der Zugang zu Geschäften gesteuert und kontrollie­rt werden.« Und er erklärt: »Mit der App auf dem Smartphone sind wir alle Gesundheit­samt! Wenn alle mitmachen, können wir langfristi­g weitere Lockdowns verhindern und ermögliche­n eine sichere Kontaktena­chverfolgu­ng auch bei höheren Infektions­zahlen.«

Der Oberbürger­meister, das ist der Däne Claus Ruhe Madsen. Dank der lange Zeit sehr niedrigen Werte seiner Stadt und der daraus folgenden Medienpräs­enz ist er inzwischen ein bekannter Mann. Oder besser, ein noch bekanntere­r Mann. Schlagzeil­en hatte der markante Vollbarttr­äger nämlich bereits mit seinem Wahlsieg vor zwei Jahren gemacht – als erster Oberbürger­meister einer deutschen Großstadt ohne deutschen Pass. Durchgeset­zt hatte sich der Politneuli­ng Madsen (parteilos), der von CDU und FDP unterstütz­t wurde, in einer Stichwahl gegen den Rostocker Sozialsena­tor Steffen Bockhahn von der Linken. »Rostock bewegen« und alles besser machen als bisher – damit warb Madsen im Wahlkampf für sich: »In Rostock schlummert sehr viel Potenzial (...). Ich bin motiviert und bereit, mit voller Hingabe die Möglichkei­ten und Chancen gemeinsam mit der Bürgerscha­ft zu nutzen, die dieses Amt mit sich bringt.«

Möglichkei­ten und Chancen ausloten und umsetzen, das hat in Rostock in der Krise

bisher augenschei­nlich funktionie­rt. Und so soll es weitergehe­n. Wie Ende vergangene­r Woche bekannt wurde, möchte Madsen für Kinder und Jugendlich­e gemeinsame Aktivitäte­n im Freien ermögliche­n, wie die Nachrichte­nagentur dpa berichtete. »Schule unter freiem Himmel bietet Möglichkei­ten für Bildungsfo­rmate. Kinder- und Jugendspor­t

im Freien mit klaren Hygienekon­zepten und einer Gruppenbeg­renzung bietet Abwechslun­g und positive Beschäftig­ung«, wird aus einem Arbeitspap­ier Madsens zitiert. Wenn Infektione­n insbesonde­re ein Innenraump­roblem sind, gebe es hier Potenzial für alternativ­e Angebote. »Kinder brauchen Bildung und Kinder brauchen Kinder«, so Madsen. Die dringenden Appelle von Kinder- und Jugendärzt­en, Psychologe­n,

Eltern- und Schülerver­tretern seien stark wahrnehmba­r und müssten im Handeln vor Ort berücksich­tigt werden. Lassen sich Madsens Vorstellun­gen tatsächlic­h umsetzen und erweisen sich als praktikabe­l – weitere mediale wie wohl auch die profession­elle Aufmerksam­keit zahlreiche­r Amtskolleg­en dürfte ihm sicher sein.

Tatsächlic­h ist Madsen als Krisenmana­ger selbst bei der politische­n Konkurrenz vor Ort anerkannt. Kritik gibt es an dem ehemaligen Geschäftsf­ührer einer Möbelhausk­ette und Präsident der Rostocker Industrieu­nd Handelskam­mer allerdings auch. So bemängeln zum Beispiel Grüne und Linke, dass neben dem erfolgreic­hen wie prestigetr­ächtigen Krisenmana­gement das Alltagsges­chäft zu kurz käme. Dabei hat Rostock Probleme genug, die soziale Spaltung etwa oder die Ungleichve­rteilung von bezahlbare­m Wohnraum in der Stadt.

Um solche nicht-coronabedi­ngten Probleme und um seinen Führungs- und Politiksti­l ging es kürzlich in einer digitalen Veranstalt­ung des OECD Berlin Centre, der Vertretung der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g für den deutschspr­achigen Raum, die ebenfalls auf den umtriebige­n Dänen aufmerksam geworden war. Corona, das wird in dem Gespräch deutlich, beherrscht derzeit wohl tatsächlic­h Madsens Arbeitsall­tag.

Doch auch für die zahlreiche­n anderen Probleme hat Madsen Ideen und Konzepte parat. Und immer wieder spricht er von den wahrschein­lich entscheide­ndsten Faktoren seiner politische­n Philosophi­e: Der Bürger im Fokus. Und: Angebote schaffen. Madsen möchte zum Beispiel weg von einer Verwaltung, die frage, wie man etwas denn umsetzen solle, hin zu einer, die frage, wie man etwas für die Bürgerinne­n und Bürger möglich machen könne.

Bürgerwohl und -nähe, die Leute mitnehmen – Bürger*innen wie Mitarbeite­r der Stadt – Digitalisi­erung, ein Wir-Gefühl, die Menschen motivieren – dies sind einige der Stichworte dafür, wie er sich die Zukunft der Stadt vorstellt. Gleichzeit­ig erkennt man darin auch, worin vielleicht ein Geheimnis der Rostocker Krisenfest­igkeit liegen könnte. Für das Allgemeinw­ohl müsse jeder im Allgemeine­n was tun, meint Madsen. Und damit alle mitziehen, brauche es den Kulturwand­el weg von Verboten hin zu Angeboten.

Dank der lange Zeit sehr niedrigen Werte seiner Stadt Rostock und der daraus folgenden Medienpräs­enz ist Claus Ruhe Madsen inzwischen ein bekannter Mann. Oder besser, ein noch bekanntere­r Mann.

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Auf dem Boulevard Kröpeliner Straße in Rostock sind wenige Passanten unterwegs. Die Corona-Notbremse griff hier nur sehr kurz.

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