Eskalation statt Klassenkampf
»Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration« wird von der Polizei gestoppt und endet in Ausschreitungen
So viele Menschen wie lange nicht mehr beteiligten sich am Samstagabend an der »Revolutionären 1.-Mai-Demonstration« in Neukölln. Nachdem die Polizei einen Teil der 20 000 Demonstrant*innen abtrennte, eskalierte die Situation.
Die Situation ist schnell eskaliert: Eben noch demonstrieren am Samstagabend in Neukölln rund 20 000 Menschen friedlich gegen Ausbeutung und Unterdrückung im Kapitalismus, kurze Zeit später fliegen Flaschen und Steine Richtung Polizei, Mülltonnen und Paletten werden angezündet – und die Beamt*innen gehen ihrerseits brutal gegen die Teilnehmer*innen vor.
Die »Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration« startete in diesem Jahr von Neukölln Richtung Oranienplatz in Kreuzberg, den sie allerdings nicht erreichen sollte. Bereits gegen 17 Uhr war der Hermannplatz brechend voll mit Menschen. Die Stimmung glich trotz Aufrufen der Veranstalter*innen, auf Alkohol zu verzichten, und eines von der Polizei verhängten Glasflaschenverbots einem ausgelassenen Volksfest. Die allermeisten Menschen trugen FFP2-Masken, und wer sich nicht an die Hygieneauflagen hielt, wurde von Teilnehmer*innen aufgefordert, einen MundNasen-Schutz zu tragen. Abstände konnten jedoch nur schwer eingehalten werden.
Gegen 19 Uhr setzte sich der Demonstrationszug dann in Bewegung, angeführt von einem migrantischen internationalistischen
Block, in dem zahlreiche palästinensische Fahnen wehten. Auch die Jewish Antifa war dort vertreten. Vereinzelt kam es zu antiisraelischen Parolen wie »Israel Apartheid« und »From the river to the sea, Palestine will be free« (Vom Jordan-Fluss bis zum Mittelmeer – Palästina wird frei sein).
Rund eine Stunde später, nachdem die Demonstration nicht mal einen Kilometer weit gekommen war, postierte sich die Polizei mit einem Großaufgebot auf der Höhe der Neukölln-Arcaden in der durch eine Baustelle verengten Karl-Marx-Straße und trennte den
hinteren Teil der Demo wegen fehlender Mindestabstände ab. Menschen, die panisch über die Baustelle aus dem Kessel zu entkommen versuchten, wurden von Polizist*innen verfolgt. »Dass auf diesem engen Raum keine Massenpanik ausbrach, wurde nur durch das besonnene Reagieren der Demoteilnehmer*innen verhindert«, kritisiert die Rote Hilfe Berlin das Vorgehen der Polizei. »Es ist offensichtlich, dass das Infektionsschutzgesetz hier als Vorwand benutzt wurde, um politisch missliebige Stimmen zum Schweigen zu bringen und zu kriminalisieren.«
Die Polizei löste die Versammlung daraufhin auf und nahm zahlreiche Menschen fest. »Immer wieder wurde auf die friedlichen Demonstrierenden grundlos eingeprügelt. Dutzende Menschen wurden verletzt, einige wurden durch Tritte und Schläge der Polizei bewusstlos«, kritisiert das »Revolutionäre 1.Mai-Bündnis«. Der vordere Teil des Demonstrationszuges zeigte sich solidarisch mit den abgetrennten Blöcken und lief nicht weiter. Einzelne Teilnehmer*innen auf der Sonnenallee bewarfen die eingesetzten Polizeikräfte daraufhin mit Flaschen und Steinen, zerrten Müllcontainer und Paletten auf die Straße und zündeten sie an. Die Polizei setzte Pfefferspray ein, die Feuerwehr löschte die Brände. Gegen 21 Uhr löste sich die Menschenmenge langsam auf, nur einzelne feiernde Gruppen waren trotz nächtlicher Ausgangssperre noch auf den Straßen unterwegs.
Insgesamt war die Polizei am 1. Mai mit rund 5600 Polizisten aus mehreren Bundesländern im Einsatz. Nach Angaben der Innensenatsverwaltung wurden mindestens 93 Polizist*innen verletzt. 354 Menschen seien festgenommen worden. »Die hässlichen Bilder aus Neukölln dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen in Berlin insgesamt friedlich und verantwortungsbewusst demonstriert haben«, betonte Innensenator Andreas Geisel (SPD).
»Das war die schlimmste Nacht der Gewalt seit vielen Jahren«, sagte der Vorsitzende und innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Burkard Dregger. Er machte die rot-rot-grüne Koalition für die Randale mitverantwortlich. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Paul Fresdorf, kritisierte, dass eine Demokratie diese »fast folkloristischen – mit Gewaltbereitschaft gepaarten – Demonstrationen und Randale« nicht hinnehmen könne.
»Viele Berlinerinnen und Berliner haben den 1. Mai genutzt, um auf vielfältige und kreative Weise für gute Arbeit und faire Mieten zu demonstrieren. Dieses Bild wurde am Abend leider gestört«, bedauerte die Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek. »Wer glaubt, mit brennenden Mülltonnen auf der Sonnenallee für eine bessere Welt zu kämpfen, irrt.« Flaschen- und Steinwürfe seien durch nichts zu rechtfertigen. »Wir verurteilen außerdem die Israelfeindlichkeit und den Antisemitismus, den einige Demonstrant*innen gezeigt haben.«
Das »Revolutionäre 1.-Mai-Bündnis« zog dennoch ein positives Fazit: »Unsere Demonstration hat gezeigt, dass der Klassenkampf wieder auf der Tagesordnung ist«, so Sprecherin Aicha Jamal. »Uns ist es gelungen, die Menschen in den angrenzenden proletarischen Kiezen anzusprechen und mit ihnen auf die Straße zu gehen – das ist ein Erfolg!« Dass der Staat mit aller Gewalt versuche, diesen Protest zu unterdrücken, zeige, »welche Angst die Herrschenden davor haben, wenn sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenschließen, weil sie erkennen, dass sie mehr verbindet, als sie trennt.«
»Dass dieser Staat mit aller Gewalt versucht, unseren Protest zu unterdrücken, zeigt, welche Angst die Herrschenden davor haben, wenn sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenschließen.« Aicha Jamal Bündnis »Revolutionärer 1. Mai«