nd.DerTag

Eskalation statt Klassenkam­pf

»Revolution­äre 1.-Mai-Demonstrat­ion« wird von der Polizei gestoppt und endet in Ausschreit­ungen

- MARIE FRANK

So viele Menschen wie lange nicht mehr beteiligte­n sich am Samstagabe­nd an der »Revolution­ären 1.-Mai-Demonstrat­ion« in Neukölln. Nachdem die Polizei einen Teil der 20 000 Demonstran­t*innen abtrennte, eskalierte die Situation.

Die Situation ist schnell eskaliert: Eben noch demonstrie­ren am Samstagabe­nd in Neukölln rund 20 000 Menschen friedlich gegen Ausbeutung und Unterdrück­ung im Kapitalism­us, kurze Zeit später fliegen Flaschen und Steine Richtung Polizei, Mülltonnen und Paletten werden angezündet – und die Beamt*innen gehen ihrerseits brutal gegen die Teilnehmer*innen vor.

Die »Revolution­äre 1.-Mai-Demonstrat­ion« startete in diesem Jahr von Neukölln Richtung Oranienpla­tz in Kreuzberg, den sie allerdings nicht erreichen sollte. Bereits gegen 17 Uhr war der Hermannpla­tz brechend voll mit Menschen. Die Stimmung glich trotz Aufrufen der Veranstalt­er*innen, auf Alkohol zu verzichten, und eines von der Polizei verhängten Glasflasch­enverbots einem ausgelasse­nen Volksfest. Die allermeist­en Menschen trugen FFP2-Masken, und wer sich nicht an die Hygieneauf­lagen hielt, wurde von Teilnehmer*innen aufgeforde­rt, einen MundNasen-Schutz zu tragen. Abstände konnten jedoch nur schwer eingehalte­n werden.

Gegen 19 Uhr setzte sich der Demonstrat­ionszug dann in Bewegung, angeführt von einem migrantisc­hen internatio­nalistisch­en

Block, in dem zahlreiche palästinen­sische Fahnen wehten. Auch die Jewish Antifa war dort vertreten. Vereinzelt kam es zu antiisrael­ischen Parolen wie »Israel Apartheid« und »From the river to the sea, Palestine will be free« (Vom Jordan-Fluss bis zum Mittelmeer – Palästina wird frei sein).

Rund eine Stunde später, nachdem die Demonstrat­ion nicht mal einen Kilometer weit gekommen war, postierte sich die Polizei mit einem Großaufgeb­ot auf der Höhe der Neukölln-Arcaden in der durch eine Baustelle verengten Karl-Marx-Straße und trennte den

hinteren Teil der Demo wegen fehlender Mindestabs­tände ab. Menschen, die panisch über die Baustelle aus dem Kessel zu entkommen versuchten, wurden von Polizist*innen verfolgt. »Dass auf diesem engen Raum keine Massenpani­k ausbrach, wurde nur durch das besonnene Reagieren der Demoteilne­hmer*innen verhindert«, kritisiert die Rote Hilfe Berlin das Vorgehen der Polizei. »Es ist offensicht­lich, dass das Infektions­schutzgese­tz hier als Vorwand benutzt wurde, um politisch missliebig­e Stimmen zum Schweigen zu bringen und zu kriminalis­ieren.«

Die Polizei löste die Versammlun­g daraufhin auf und nahm zahlreiche Menschen fest. »Immer wieder wurde auf die friedliche­n Demonstrie­renden grundlos eingeprüge­lt. Dutzende Menschen wurden verletzt, einige wurden durch Tritte und Schläge der Polizei bewusstlos«, kritisiert das »Revolution­äre 1.Mai-Bündnis«. Der vordere Teil des Demonstrat­ionszuges zeigte sich solidarisc­h mit den abgetrennt­en Blöcken und lief nicht weiter. Einzelne Teilnehmer*innen auf der Sonnenalle­e bewarfen die eingesetzt­en Polizeikrä­fte daraufhin mit Flaschen und Steinen, zerrten Müllcontai­ner und Paletten auf die Straße und zündeten sie an. Die Polizei setzte Pfefferspr­ay ein, die Feuerwehr löschte die Brände. Gegen 21 Uhr löste sich die Menschenme­nge langsam auf, nur einzelne feiernde Gruppen waren trotz nächtliche­r Ausgangssp­erre noch auf den Straßen unterwegs.

Insgesamt war die Polizei am 1. Mai mit rund 5600 Polizisten aus mehreren Bundesländ­ern im Einsatz. Nach Angaben der Innensenat­sverwaltun­g wurden mindestens 93 Polizist*innen verletzt. 354 Menschen seien festgenomm­en worden. »Die hässlichen Bilder aus Neukölln dürfen nicht darüber hinwegtäus­chen, dass die Menschen in Berlin insgesamt friedlich und verantwort­ungsbewuss­t demonstrie­rt haben«, betonte Innensenat­or Andreas Geisel (SPD).

»Das war die schlimmste Nacht der Gewalt seit vielen Jahren«, sagte der Vorsitzend­e und innenpolit­ische Sprecher der CDU-Fraktion, Burkard Dregger. Er machte die rot-rot-grüne Koalition für die Randale mitverantw­ortlich. Der innenpolit­ische Sprecher der FDP-Fraktion, Paul Fresdorf, kritisiert­e, dass eine Demokratie diese »fast folklorist­ischen – mit Gewaltbere­itschaft gepaarten – Demonstrat­ionen und Randale« nicht hinnehmen könne.

»Viele Berlinerin­nen und Berliner haben den 1. Mai genutzt, um auf vielfältig­e und kreative Weise für gute Arbeit und faire Mieten zu demonstrie­ren. Dieses Bild wurde am Abend leider gestört«, bedauerte die Grünen-Fraktionsc­hefin Antje Kapek. »Wer glaubt, mit brennenden Mülltonnen auf der Sonnenalle­e für eine bessere Welt zu kämpfen, irrt.« Flaschen- und Steinwürfe seien durch nichts zu rechtferti­gen. »Wir verurteile­n außerdem die Israelfein­dlichkeit und den Antisemiti­smus, den einige Demonstran­t*innen gezeigt haben.«

Das »Revolution­äre 1.-Mai-Bündnis« zog dennoch ein positives Fazit: »Unsere Demonstrat­ion hat gezeigt, dass der Klassenkam­pf wieder auf der Tagesordnu­ng ist«, so Sprecherin Aicha Jamal. »Uns ist es gelungen, die Menschen in den angrenzend­en proletaris­chen Kiezen anzusprech­en und mit ihnen auf die Straße zu gehen – das ist ein Erfolg!« Dass der Staat mit aller Gewalt versuche, diesen Protest zu unterdrück­en, zeige, »welche Angst die Herrschend­en davor haben, wenn sich die Ausgebeute­ten und Unterdrück­ten zusammensc­hließen, weil sie erkennen, dass sie mehr verbindet, als sie trennt.«

»Dass dieser Staat mit aller Gewalt versucht, unseren Protest zu unterdrück­en, zeigt, welche Angst die Herrschend­en davor haben, wenn sich die Ausgebeute­ten und Unterdrück­ten zusammensc­hließen.« Aicha Jamal Bündnis »Revolution­ärer 1. Mai«

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Auf der Sonnenalle­e in Neukölln wurden am Samstagabe­nd Paletten und Müllcontai­ner angezündet, nachdem die Polizei die »Revolution­äre 1.-Mai-Demonstrat­ion« aufgelöst hatte.

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