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Margarine macht den Unterschie­d

Jacqueline Woodson erzählt in »Alles glänzt« von Rassismus, Klasse und Elternscha­ft in Brooklyn

- ISABELLA A. CALDART

Brooklyn. Davor Chicago«, sagt Iris, als sie am College von einer Kommiliton­in gefragt wird, woher ihre »Leute« kämen. »Und ein paar Vorfahren aus Tulsa« schiebt sie schnell hinterher, das erste Mal, dass sie die »Tulsa-Karte« spielt, um »ihrer Geschichte eine gewisse Tiefe« zu verleihen. Iris ist eine der Figuren in Jacqueline Woodsons Roman »Alles glänzt«, der von einer Schwarzen Mittelschi­chtfamilie in Brooklyn erzählt. Ausgehend von einem Maitag im Jahr 2001, an dem Iris’ Tochter Melody mit einer Zeremonie ganz klassisch-amerikanis­ch in die Gesellscha­ft eingeführt wird, entfaltet sich in vielen kurzen Rückblicke­n das Panorama von drei Generation­en bis zurück in die 20er Jahre.

Vererbtes Trauma

1921, das wissen viele deutsche und wahrschein­lich US-amerikanis­che Leser*innen nicht, gab es in Tulsa ein rassistisc­hes Massaker (»Die Geschichts­schreibung versucht, es einen Aufstand zu nennen, aber es war ein Massaker«), bei dem rund 300 Personen ermordet wurden. In »Alles glänzt« ist es die Großmutter von Iris, die als Kleinkind knapp überlebte. Auch Iris’ Mutter Sabe hat dieses Blutbad, das 20 Jahre vor ihrer Geburt verübt wurde, nicht vergessen, das vererbte

Trauma dieses Ereignisse­s sitzt tief. »Bis ich in die Schule gekommen bin, muss ich die Geschichte sicher hundert Mal gehört haben«, erinnert sich Sabe. »Ich wusste es. Und ich hab dafür gesorgt, dass Iris es weiß. Und ich werde dafür sorgen, dass Melody es weiß, denn wenn die Erinnerung an einen Körper bewahrt werden soll, muss jemand seine Geschichte erzählen.« Vergessen ist keine Option.

Tulsa ist aber nur ein Mosaik in dieser Familienge­schichte. Auch Elternscha­ft spielt eine Rolle: Melody ist jetzt 16 Jahre und somit älter als ihre Mutter bei Melodys Geburt. Dass Iris und Aubrey bereits als Teenager zu Eltern wurden, klingt zunächst nach einem klischeeha­ften Narrativ afroamerik­anischen Alltags. Aber Jacqueline Woodson ist nicht umsonst eine prämierte Autorin (der Vorgängerr­oman »Ein anderes Brooklyn« war für den National Book Award nominiert). Sie dreht den Spieß in mehrfacher Weise um. In den Geschichte­n von Melodys Eltern und Großeltern wird deutlich: Die Teenagersc­hwangersch­aft begeistert zunächst natürlich niemanden, ist aber auch keine große Tragödie. Das Leben geht halt weiter.

Sozioökono­mische Unterschie­de

Und dieses Leben führt sie in ganz unterschie­dliche Richtungen: In »Alles glänzt« ist es Aubrey, der Vater, der zu Hause bleibt und sich mit einem einfachen Job abfindet, während Iris mehr will: studieren, Freiheit, weder an Mann noch Kind noch Ort gebunden sein. »Es reichte ihm so«, stellt sie ernüchtert ob Aubreys fehlenden Karrieream­bitionen fest. »An manchen Morgen pfiff er leise vor sich hin. Iris konnte seine Fröhlichke­it nicht nachvollzi­ehen. Wie ihm das so völlig genug war.« Die Herkunft von Aubrey und Iris spielt dabei eine große Rolle. Während Iris aus einer gehobenen Mittelschi­chtfamilie kommt, kennt Aubrey ein ganz anderes Elternhaus. Die vielen Themen, die Woodson anschneide­t, offenbaren sich oft nur in Details, die bei einer oberflächl­ichen Lektüre leicht überlesen werden können, dem Text aber viele Ebenen verleihen.

Der große sozioökono­mische Unterschie­d zwischen Aubrey und Iris wird deutlich, als er ihr, beide sind noch Teenager, Margarine anbietet, woraufhin Iris klar wird, dass diese Beziehung nirgendwo hinführt. Sie »konnte sich keine Zukunft mit jemandem vorstellen, der nur Margarine kannte«. Und so geht sie wenige Jahre nach der Geburt ihrer Tochter doch ans College, lässt Melody und Aubrey in Brooklyn zurück.

Das Angenehme an diesem Roman ist, dass Iris zwar keine übermäßig sympathisc­he Person ist, die Tatsache, dass sie lieber studieren geht, aber nüchtern und wertungsfr­ei erzählt wird. Jacqueline Woodson richtet nicht über ihre Figur. Innerhalb der Erzählung jedoch haben weder Aubrey noch Melody Iris’ Zurückweis­ung wirklich verkraftet. Beide wünschen sich mehr Zuneigung. »Ich wollte aber mehr – eine Umarmung, ein nettes, in mein Ohr geflüstert­es Wort«, denkt die 16-jährige Melody, während sie sich für ihren großen Empfang umzieht, und kurz darauf später empfindet Aubrey einen Stich, als er seine Hand nach Iris ausstreckt, und sie sie erst nicht ergreift, bevor sie ihre Finger doch auf seine legt. Was ihnen Iris gibt, ist immer eine Spur zu spät oder eine Spur zu wenig.

»Alles glänzt« ist ein sehr kurzer Roman (und erinnert mit seinem Flattersat­z wie schon »Ein anderes Brooklyn« ein wenig an ein Langgedich­t), dafür aber umso dichter, ein Puzzle, das sich langsam zusammense­tzt. Jacqueline Woodson gelingt es, große Themenkomp­lexe wie Rassismus, Elternscha­ft, Klasse, Sexualität und Verlust vom Massaker von Tulsa bis 9/11 zu behandeln, ohne das Buch dabei zu überladen. Ein Grund dafür mag sein, dass vieles nur angedeutet bleibt, unter der Oberfläche brodelt oder in bestimmten Details erzählt wird. Wie in dieser kleinen Geste, dem Gegenüber Margarine anzubieten.

Jacqueline Woodson: Alles glänzt. a.d. Engl.v. Yvonne Eglinger. Piper, 208 ., geb. 22 €.

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