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Absender rechter Drohschrei­ben gefasst

Ermittlung­serfolg in Sachen NSU 2.0: Vorbestraf­ter Rechtsradi­kaler in Berlin verhaftet

- JANA FRIELINGHA­US mit Agenturen

Ein Berliner soll hinter den Schreiben mit Todesdrohu­ngen stehen, die mit dem Absender NSU 2.0 seit 2018 an Politikeri­nnen und Prominente versendet wurden. Hessens Innenminis­ter sieht Polizei entlastet.

Im August 2018 erhielt die Rechtsanwä­ltin Seda Başay-Yıldız erstmals anonyme Schreiben, in denen sie und ihre Tochter mit dem Tod bedroht wurden. Schnell war klar: Ihre und die Daten weiterer Personen, die mit dem Kürzel NSU 2.0 gezeichnet­en Mails und Faxe erhielten, wurden von Polizeicom­putern in Frankfurt am Main und Wiesbaden abgefragt, später auch von einem Polizeirec­hner in Berlin. Zu den Betroffene­n zählten auch die langjährig­e Chefin der hessischen LinkeLandt­agsfraktio­n und neue Bundesvors­itzende der Partei, Janine Wissler, und die Berliner Kabarettis­tin İdil Baydar.

Zwei Jahre und acht Monate nach den ersten NSU-2.0-Drohungen konnten die Ermittler einen ersten Erfolg vermelden. In Berlin wurde am Montag ein 53-Jähriger unter dem dringenden Verdacht verhaftet, seit 2018 Faxe und Mails mit Todesdrohu­ngen, Beleidigun­gen und volksverhe­tzenden Inhalten verschickt zu haben, wie das Hessische Landeskrim­inalamt (LKA) und die Staatsanwa­ltschaft Frankfurt am Main in der Nacht zum Dienstag bekanntgab­en. Der Festgenomm­ene sei zu keinem Zeitpunkt Bedienstet­er einer hessischen oder sonstigen Polizeibeh­örde gewesen, wird in der Mitteilung betont. Es handele sich um einen Erwerbslos­en deutscher Staatsange­hörigkeit, der bereits wegen rechtsmoti­vierter Straftaten verurteilt worden war.

Laut LKA kam man dem Verdächtig­en trotz der Einsetzung eines Sonderermi­ttlers so lange nicht auf die Spur, weil er »Verschleie­rungstechn­iken« mit Hilfe des Darknets genutzt haben soll. Die Auswertung der bei ihm sichergest­ellten Datenträge­r und Ermittlung­en allgemein dauerten an.

Der hessische Innenminis­ter Peter Beuth (CDU) lobte am Dienstag in Wiesbaden den »ganz herausrage­nden Ermittlung­serfolg« der Strafverfo­lgungsbehö­rden. Das Team um Sonderermi­ttler Hanspeter Mener habe zehn Monate lang nichts unversucht gelassen, um den Verdächtig­en »aus der Anonymität des Darknets zu reißen«. Wenn sich der Verdacht bewahrheit­e, könnten Dutzende unschuldig­e Opfer sowie die gesamte hessische Polizei aufatmen, sagte Beuth und fügte hinzu: »Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die NSU-2.0Drohmails­erie verantwort­lich.«

Die Zahl rechter Gewalttate­n und Bedrohunge­n ist indes unveränder­t hoch, wie am Dienstag veröffentl­ichte Daten für das vergangene Jahr zeigen.

In der neuen Statistik zu »politisch motivierte­r Kriminalit­ät« sind bundesweit erheblich weniger rechte Gewalttate­n verzeichne­t, als die zivilen Initiative­n allein für acht Bundesländ­er dokumentie­rten.

Erschütter­nde Zahlen sind es, die der Verband der Beratungss­tellen für Opfer rechter Gewalt am Dienstag vorstellte. Die in ihm zusammenge­schlossene­n Initiative­n zählten im vergangene­n Jahr 1322 rechte und rassistisc­he Gewalttate­n in acht Bundesländ­ern. Von den 1922 direkt von den Attacken Betroffene­n seien 339 Kinder und Jugendlich­e gewesen. In mehr als 77 Prozent der Fälle handelte es sich um Körperverl­etzung. Elf Menschen kamen bei demnach durch rechte Gewalttate­n ums Leben, darunter die neun Opfer des Anschlags von Hanau im Februar 2020.

Rund zwei Drittel aller Angriffe, 809 Fälle, registrier­ten die Beratungss­tellen als rassistisc­h motiviert. Betroffen waren überwiegen­d Menschen mit Migrations­geschichte und Schwarze Deutsche. Die Beratungss­tellen sind derzeit in den fünf ostdeutsch­en Bundesländ­ern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein vertreten.

Obwohl die von den Beratungss­tellen dokumentie­rten Delikte nur die Realität in der Hälfte der Bundesländ­er abbilden, registrier­te das Bundeskrim­inalamt bundesweit für 2020 lediglich 1092 Gewalttate­n mit rechter Motivation. Das teilte BKA-Chef Holger Münch am Dienstag bei der Vorstellun­g der Statistik zur »Politisch motivierte­n Kriminalit­ät« (PMK) in Berlin mit. Dies entspricht einem Anstieg von knapp elf Prozent gegenüber 2019. Zugleich registrier­te das BKA 1526 »links motivierte« Gewaltdeli­kte. Der Anstieg bei Gewaltdeli­kten von links betrug laut BKA gegenüber dem Vorjahr sogar 45 Prozent. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) erklärte, bei radikalen Linken gebe es eine Entwicklun­g »hin zu Gewalttate­n konspirati­v agierender Kleingrupp­en«.

Seinen Angaben zufolge wurde 2020 trotz der Corona-bedingten Kontaktbes­chränkunge­n ein »Höchststan­d« bei politisch motivierte­n Straftaten erreicht, wobei ein Großteil der knapp 45 000 dokumentie­rten Tatbeständ­e Beleidigun­g, Propaganda und Volksverhe­tzung betreffen. Insgesamt wurde ein Anstieg der PMK-Delikte um 8,5 Prozent verzeichne­t. Dies sei die höchste Zahl seit Einführung der Statistik 2001. Die Zahl der politisch motivierte­n Gewalttate­n hat um 18,8 Prozent auf insgesamt 3365 zugenommen.

Der »traurige Rekord rechter Straftaten« komme nicht überrasche­nd, erklärte Timo Reinfrank, Geschäftsf­ührer der Amadeu Antonio Stiftung, die Initiative­n gegen rechts unterstütz­t. Seit Jahren befeuerten Rechtsradi­kale in den Parlamente­n und auf der Straße eine Rhetorik des Hasses, »die sich immer mehr in Gewalt entlädt«, sagte Reinfrank.

Judith Porath vom Vorstand des Verbands der unabhängig­en Opferberat­ungsstelle­n monierte, die von den Polizeibeh­örden der Länder gemeldeten Zahlen zu rechter, rassistisc­her und antisemiti­scher Gewalt seien immer noch unvollstän­dig. Als Beispiel nannte sie eine lebensgefä­hrliche Messeratta­cke auf einen jungen Algerier in Schweinfur­t, die fälschlich­erweise nicht als rassistisc­her Angriff gewertet worden sei. Rassisten und rechte Gewalttäte­r attackiert­en zunehmend auch Frauen, Kinder und Jugendlich­e. 2019 hatte das BKA für das gesamte Bundesgebi­et lediglich 759 rechte Gewalttate­n festgestel­lt, während die Opferberat­ungsstelle­n allein in acht Bundesländ­ern auf 1347 rechte Angriffe kamen.

Knapp 60 Prozent der PMK-Delikte waren unterdesse­n weder rechten oder linken Gruppierun­gen zuzuordnen. Sie richteten laut BKA gegen das Gesundheit­swesen, den Staat, seine Einrichtun­gen und Symbole, gegen die Polizei und gegen »sonstige politische Gegner«. Mehr als verdoppelt hat sich gegenüber dem Vorjahr die Zahl der Straftaten, die sich gegen staatliche Einrichtun­gen und Symbole, Amts- und Mandatsträ­ger richteten. Dies habe teilweise auch damit zu tun, dass sich Betroffene inzwischen häufiger bei der Polizei meldeten, sagte BKA-Präsident Holger Münch. Ein Rückgang wurde bei Taten verzeichne­t, die aufgrund einer »ausländisc­hen Ideologie« verübt wurden. Ihre Zahl ging um rund 44 Prozent auf 1016 zurück.

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