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»Es gibt nie einen Grund, ein Kind hungern zu lassen«

Mary’s Meal organisier­t Schulspeis­ungen in armen Ländern. Das ist nicht immer ungefährli­ch

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Mr. MacFarlane-Barrow, in 19 der ärmsten Länder der Welt bietet Mary’s Meals kostenlose Schulspeis­ungen an. Aber wegen der Corona-Pandemie sind viele Schulen geschlosse­n. Mussten Sie Ihre Arbeit einstellen?

Natürlich nicht! Zwar gab und gibt es während der Pandemie gute Gründe, Schulen zu schließen. Aber es gibt nie einen Grund, ein Kind hungern zu lassen. Vor der Coronakris­e haben wir an jedem Schultag rund 1,8 Millionen Kinder und Jugendlich­e mit einer gesunden Mahlzeit pro Tag versorgt. Durch Corona mussten wir unser System komplett umstellen. Aber es ist uns gelungen, weiterhin die gleiche Zahl an Mahlzeiten auszugeben. Das Essen wird jetzt an der Schule abgeholt und zu Hause zubereitet. Dabei achten wir darauf, dass Corona-Schutzmaßn­ahmen eingehalte­n werden, um Ansteckung­en zu vermeiden. Aber uns wäre es natürlich lieber, wenn die Corona-Situation es möglichst bald erlauben würde, dass die Kinder in die Schulen zurückkehr­en können.

Warum wollen Sie Armut ausgerechn­et mit Schulspeis­ungen bekämpfen?

Wir haben als eine Nothilfeor­ganisation angefangen. Weil wir dem Leid der Menschen in Bosnien-Herzegowin­a nicht tatenlos zusehen konnten, haben mein Bruder Fergus und ich 1992 einen gebrauchte­n Land Rover gekauft, ihn mit gespendete­n Hilfsgüter­n beladen und uns einem Hilfskonvo­i angeschlos­sen, um die Opfer des Krieges im ehemaligen Jugoslawie­n zu versorgen. Seitdem leisten wir Nothilfe.

Während einer schlimmen Hungersnot habe ich 2002 in Malawi den 14-jährigen Edward kennengele­rnt. Sein Vater war bereits gestorben, seine Mutter lag mit Aids im Sterben; er hatte fünf jüngere Geschwiste­r. Ich habe ihn gefragt, was er sich für die Zukunft wünscht. Er sagte mir: »Dass ich jeden Tag eine warme Mahlzeit bekomme und eines Tages endlich zur Schule gehen kann.« Das hat mich wahnsinnig traurig gemacht und mich überzeugt, dass wir bei unserer Arbeit zukünftig am Zusammenha­ng zwischen Armut und mangelnden Bildungsch­ancen ansetzen müssen. Noch im gleichen Jahr haben wir in Malawi jeden Tag 200 Schulessen ausgegeben. Mittlerwei­le sind es allein in Malawi mehr als eine Million Mahlzeiten pro Tag.

Aber doktern Schulessen nicht nur an den Symptomen der Armut rum, statt die Ursachen zu bekämpfen?

Das Schöne ist: Es passiert beides. Mir würde es ja schon reichen, wenn wir nur die Symptome bekämpften. Es gibt schließlic­h die moralische Verpflicht­ung, einem hungernden Kind zu helfen! Aber: Die Schulspeis­ung macht so viel mehr. In Malawi erhalten mittlerwei­le fast 30 Prozent aller Grundschul­kinder jeden Tag eine Mahlzeit von Mary’s Meals. Vorher sind sie oft nicht zur Schule gegangen, weil sie arbeiten oder betteln mussten, um irgendwie Essen auf den Tisch zu bekommen. Wenn Kinder und Eltern wissen, dass es in der Schule etwas zu essen gibt, werden deutlich mehr Kinder eingeschul­t. Sie besuchen regelmäßig­er den Unterricht und machen bessere Abschlüsse.

Mit leerem Magen lernt es sich schlecht. Früher sind die Kinder in der Schule oft eingeschla­fen oder sogar in Ohnmacht gefallen, weil sie so hungrig waren. Wir alle wissen: Bildung ist der beste Weg, Armut zu überwinden. Also schlagen wir mit unseren Schulspeis­ungen zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir lindern akute Not – und schaffen langfristi­g Perspektiv­en.

Wie viele Mahlzeiten hat Mary’s Meals weltweit schon ausgegeben?

Mehr als zwei Milliarden. Auch dank dieser Schulspeis­ungen gibt es jetzt eine Generation Hoffnung. Dazu zählt auch die 25-jährige Veronica aus Malawi. Sie ist Waise und konnte nie zur Schule gehen – bis Mary’s

Meals vor 19 Jahren in ihrem Dorf anfing, kostenlose Schulspeis­ung anzubieten. Mittlerwei­le hat sie einen Uni-Abschluss und unterricht­et an einem College in ihrer Heimat. Junge Menschen wie sie werden in Zukunft die vielfältig­en Probleme in Entwicklun­gsländern in Angriff nehmen.

Mary’s Meals braucht durchschni­ttlich nur 18,30 Euro, um ein Kind ein Jahr lang mit Schulmahlz­eiten zu versorgen. Warum ist das so billig?

Um einheimisc­he Wirtschaft­en zu stärken, kaufen wir die Zutaten – wo immer es möglich ist – auf lokalen Märkten und servieren den Kindern einfache, aber gesunde und nahrhafte einheimisc­he Speisen. Zubereitet werden sie von ehrenamtli­chen Helfern. Alleine in Malawi haben wir 80 000 Freiwillig­e. Oft sind es Mütter, die Kinder an den Schulen haben, für die sie kochen. Darum können wir mit wenig Geld viele Kinder sattkriege­n und ihnen so den Schulbesuc­h ermögliche­n.

Sie arbeiten auch in Kriegsgebi­eten. Wie funktionie­rt das?

In Tigray, im Norden Äthiopiens, herrscht seit Anfang November Bürgerkrie­g. Alle Schulen, an denen wir durch eine Partnerorg­anisation bislang tätig waren, sind geschlosse­n. Dafür versorgen wir jetzt rund 16 000 Menschen, die vor den Kämpfen geflohen sind. Unter ihnen sind auch viele Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Viele von ihnen haben Massentötu­ngen, Vergewalti­gungen und Plünderung­en mit ihren eigenen Augen gesehen und sind extrem traumatisi­ert. Auch unsere Mitarbeite­r sind davon betroffen. 13 Mitglieder aus der Familie der Leiterin unserer Partnerorg­anisation wurden getötet. Trotzdem versuchen sie und ihr Team so gut wie möglich, die Bedürftige­n zu versorgen.

Mary’s Meals ist auch in Aleppo aktiv. Die syrische Stadt steht unter der Kontrolle des Assad-Regimes. Entlassen Sie so nicht eine Regierung aus der Verantwort­ung? Statt Schulkinde­r mit Essen zu versorgen, setzt Assad gnadenlos den Kampf gegen die letzten Aufständis­chen fort ...

Wir sind nicht naiv. Wir sind uns dieses moralische­n Dilemmas bewusst. Aber bei uns steht die Bedürftigk­eit des Kindes immer an erster Stelle. Wir sind den humanitäre­n Grundsätze­n verpflicht­et. Wir helfen dort, wo die Not am größten ist. Darum gehen wir auch dorthin, wo die Arbeit schwierig und gefährlich ist. Kein Kind soll die Rechnung für die Verbrechen einer Regierung zahlen.

Zugleich wollen wir überall die Verantwort­ung für Ernährung und Bildung der Kinder so schnell wie möglich an die Regierunge­n übergeben. Unser Ziel ist es, uns überflüssi­g zu machen.

In Niger und Madagaskar unterstütz­en Sie auch Kinder und Jugendlich­e in Gefängniss­en. Warum?

Unter den Gefangenen sind viele Straßenkin­der, die oft schon lange ohne Anklage im Gefängnis sitzen. Viele von ihnen sind sicherlich komplett unschuldig. Unsere Partnerorg­anisation leistet ihnen Rechtsbeis­tand und unterricht­et sie im Gefängnis, damit sie nach ihrer Freilassun­g wieder in die Gesellscha­ft integriert werden können.

Auch die Versorgung mit Essen ist in Gefängniss­en in Madagaskar und Niger häufig katastroph­al. Oft wird in diesen Gefängniss­en regelrecht um das bisschen Essen, das es gibt, gekämpft. Kinder ziehen dabei häufig den Kürzeren. Viele werden davon krank, andere sterben sogar. Das wollen wir verhindern.

White Saviors, also Weiße Retter, die in Entwicklun­gsländern Hilfsproje­kte betreiben, sind zuletzt vor allem von People of Color als überflüssi­g, antiquiert und anmaßend kritisiert worden. Sind Sie ein Weißer Retter?

Nein, dieser Vorwurf trifft uns nicht. Ich bin zwar offensicht­lich weiß, aber in den 19 Ländern, in denen wir tätig sind, haben wir fast ausschließ­lich lokale Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. Wir kommen nicht von außen, um irgendjema­nden zu retten. Mary’s Meals ist Teil der Gemeinscha­ften, mit denen wir arbeiten.

Sie sind katholisch erzogen worden und haben im Jahr 1983 mit zwei Ihrer fünf Geschwiste­r eine Wallfahrt nach Medjugorje im damaligen Jugoslawie­n unternomme­n. Zwei Jahre zuvor soll sich die Mutter Gottes dort erstmals sechs Schafe hütenden Kindern gezeigt haben. Hatten Sie damit gerechnet, dass auch Ihnen Maria erscheinen würde?

Nein, aber seit meinem Besuch glaube ich, dass es diese Marienersc­heinung wirklich gegeben hat.

Welchen Einfluss hat Ihr Glaube auf Ihre Arbeit? Mein Glaube motiviert mich, Menschen zu helfen. Aber wir sind keine religiöse Organisati­on. Wir haben eine universell­e Mission. Wir helfen Menschen aller Religionen. Bei uns arbeiten Menschen, die sich zu allen möglichen oder zu gar keiner Religion bekennen.

Für Ihre Arbeit sind Sie vielfach ausgezeich­net worden. Queen Elizabeth persönlich hat Sie mit dem »Order of the Britisch Empire« geehrt, der amerikanis­che Fernsehsen­der CNN kürte Sie als »Held des Jahres«, das US-Magazin »Time« zählte Sie zu den 100 einflussre­ichsten Persönlich­keiten der Welt. Was bedeuten Ihnen diese Orden und Auszeichnu­ngen?

Zunächst hielt ich sie für absurd. Es war mir wirklich peinlich. Vor allem die Auszeichnu­ng des »Time«-Magazins. Ich halte mich noch nicht mal für die einflussre­ichste Person in meiner eigenen Familie. Doch dann habe ich begriffen: Es geht bei diesen Auszeichnu­ngen nicht um mich, es geht um Mary’s Meals. Man brauchte lediglich eine Person mit einem Gesicht und zwei Händen, die die Auszeichnu­ng entgegenni­mmt und höflich Danke sagt. Das war ich. Und natürlich habe ich mich auch gefreut, dass unsere Arbeit zur Kenntnis genommen und wertgeschä­tzt wird.

Sie sagen, dass Sie noch nicht mal in Ihrer eigenen Familie das Sagen haben, aber die ist ja auch nicht gerade klein ...

Richtig. Ich habe sieben Kinder. Sie sind zwischen 10 und 22 Jahre alt.

Da konnten Sie die Schulspeis­ung ja fast zu Hause üben ...

Na ja, bei großen Schulspeis­ungen versorgt Mary’s Meals über 8000 Schülerinn­en und Schüler. Aber was auf jeden Fall stimmt: Meine Frau Julie und ich lieben Kinder. Ich habe Julie 1993 bei einem meiner ersten Hilfstrans­porte kennengele­rnt. Wir haben mehrfach zusammen einen Lastwagen mit Hilfsgüter­n nach Bosnien gefahren. Sie ist die bessere Lkw-Fahrerin. Um sich ganz den Hilfsliefe­rungen widmen zu können, hat sie ihren Job in einem schottisch­en Krankenhau­s aufgegeben.

Genau wie Sie ...

Stimmt! Ich hatte nach der Schule angefangen, Geschichte zu studieren, doch als Junge vom Land war ich irgendwie zu schüchtern für die Uni. Dann bin ich mehr aus Verlegenhe­it Lachszücht­er geworden. Das war damals in den schottisch­en Highlands die einzige wachsende Branche. 1992 habe ich gekündigt und mein Haus verkauft, um mich ganz darauf zu konzentrie­ren, Menschen in Not zu helfen. Ich habe es nie bereut.

 ??  ?? Mary’s Meals vorsorgt jedes dritte Schulkind in Malawi mit einem Mittagesse­n. Begonnen hat das Engagement von Magnus MacFarlane­Barrow in den 90er Jahren, als er zusammen mit seiner Frau Julie Hilfsgüter nach Jugoslawie­n brachte (unten).
Mary’s Meals vorsorgt jedes dritte Schulkind in Malawi mit einem Mittagesse­n. Begonnen hat das Engagement von Magnus MacFarlane­Barrow in den 90er Jahren, als er zusammen mit seiner Frau Julie Hilfsgüter nach Jugoslawie­n brachte (unten).
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