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NS-Aufarbeitu­ng: Die Schuld der Wissenscha­ft

- Dpa

»Die Zahl der Juden in Tarnów hat sich um 16 000 verringert.« Hinter dem Eintrag im Kriegstage­buch einer deutschen Kompanie verbirgt sich einesdervi­elenVerbre­chenderNat­ionalsozia­listen im Zweiten Weltkrieg. Die Auslöschun­g der Juden in dem damals deutsch besetzten polnischen Städtchen hat einen besonders perfiden Charakter. Im Vorfeld fotografie­rten zwei Wiener Wissenscha­ftlerinnen im Jahr 1942 mehr als 100 jüdische Familien und vermaßen die Schädel der insgesamt 565 Männer, Frauen und Kinder zur »Erforschun­g typischer Ostjuden«, so der damalige Projekttit­el. Die Ausstellun­g »Der kalte Blick« (bis 14. November) im Haus der Geschichte Österreich (hdgö) in Wien thematisie­rt nun den Beitrag auch von NS-Täterinnen aus der Forschung zur pauschalen Abwertung von Menschen.

Es handle sich um einen Fall, in dem zwei Wiener Wissenscha­ftlerinnen sich von ihren rassistisc­hen Studien Chancen für ihre persönlich­e Karriere erhofften, sagte hdgö-Direktorin Monika Sommer am Dienstag. Die Schau ist eine Kooperatio­n zwischen dem Naturhisto­rischen Museum in Wien, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographi­e des Terrors in Berlin. Dort war sie in den vergangene­n Monaten wegen der Corona-Krise fast unter Ausschluss der Öffentlich­keit gezeigt worden. Die Schau soll nach der Station in Wien auch in Polen zu sehen sein.

Ausgangspu­nkt ist ein 1997 von der Kuratorin Margit Berner im Naturhisto­rischen Museum entdeckter Karton mit den Fotos. In jahrelange­r Kleinarbei­t gelang es ihr, die Todes- und Lebenswege der Porträtier­ten zu rekonstrui­eren. Nur 26 der 565 fotografie­rten Menschen hatten das Grauen überlebt. Die meisten Familien waren von den Nazis ausgelösch­t worden. Der Verwalter des Ghettos der Stadt habe seinen 17-jährigen Sohn eigens auf seine Streifzüge mitgenomme­n, um ihm das Erschießen von Juden beizubring­en, erinnerte der Historiker Götz Aly, der die Schau mitkuratie­rt hat. Als die Wissenscha­ftlerinnen von der Ermordung der von ihnen Fotografie­rten hörten, hätten sie sich gefreut: »Unser Material ist jetzt schon einmalig«, zitierte Aly einen Briefwechs­el der beiden Frauen.

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