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Verkehrswe­nde verschlepp­t

Fahrradclu­b ADFC sieht Pop-up-Radwege als Hoffnungss­chimmer angesichts »dysfuktion­aler Verwaltung«

- NICOLAS ŠUSTR

Dreimal so viele Radfahrend­e wie im Jahr zuvor starben 2020 im Berliner Verkehr. Nur ein Beleg für den Fahrradclu­b ADFC, dass der Senat seine Versprechu­ngen nicht ansatzweis­e erfüllt hat.

»Berlin ist deutlich hinter seinen Möglichkei­ten zurückgebl­ieben. Außer den Pop-upRadwegen ist nicht wirklich viel passiert.« So lautet am Dienstag bei einer Online-Pressekonf­erenz das Resümee von Frank Masurat zur Radverkehr­spolitik von Rot-RotGrün seit Ende 2016. Er ist Vorstandsm­itglied des Allgemeine­n Deutschen FahrradClu­bs (ADFC) Berlin.

In den kommenden fünf Jahren soll das nach Wunsch der Fahrradlob­by anders laufen. 2026 soll man an Hauptstraß­en »völlig selbstvers­tändlich auf einem breiten, geschützte­n Radweg« fahren können, beschreibt Sprecherin Lisa Feitsch die Vision des ADFC. 28 Prozent soll der Anteil des Fahrrades am Gesamtverk­ehr in der Hauptstadt, der sogenannte Modal Split, betragen. Laut den aktuellste­n verfügbare­n Zahlen lag dieser 2018 noch bei 18 Prozent. Im kürzlich von der Senatsverk­ehrsverwal­tung vorgelegte­n Stadtentwi­cklungspla­n Mobilität und Verkehr sind für 2030 vergleichs­weise bescheiden­e 23 Prozent Fahrradant­eil angestrebt.

Mehr Verkehrsto­te im Jahr 2020

»Wir wollen keine Geisterräd­er mehr aufstellen müssen«, nennt Frank Masurat eines der Kernanlieg­en des rund 18 000 Mitglieder starken Vereins. Es sollen keine Radfahreri­nnen und Radfahrer mehr bei Verkehrsun­fällen sterben. »Vision Zero«, so der offizielle Titel des Ziels, das auch im Mobilitäts­gesetz verankert ist. »Gerade mit Rückblick auf das letzte Jahr sind wir der ›Vision Zero‹ überhaupt nicht nähergekom­men«, beklagt Masurat. 17 Radfahrend­e starben 2020 auf den Straßen der Hauptstadt, fast dreimal so viele wie im Jahr zuvor. Insgesamt waren 50 Verkehrsto­te zu beklagen.

»Das alte Verkehrssi­cherheitsp­rogramm ist krachend gescheiter­t. Und es gibt kein neues«, so Masurat. Dabei seien die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, bekannt. Er fordert mehr Durchgriff­srechte für die Unfallkomm­ission. »Wenn es offensicht­lich ist, dass an einem tödlichen Unfall die Infrastruk­tur beteiligt ist, darf die Kreuzung nicht wieder in Betrieb gehen«, sagt der Radlobbyis­t. Beispielsw­eise soll es ein Rechtsabbi­egeverbot geben, bis die Ampel auf getrennte Grünphasen für geradeausf­ahrende Radfahrer und abbiegende Kraftfahrz­euge umgestellt ist. Am Alexanderp­latz ist diese Forderung immerhin schon umgesetzt worden. Das erhöht auch den Druck auf eine schnellere Umsetzung von neuen Ampelprogr­ammierunge­n beim privaten Betreiber Alliander. Derzeit sei das »eher ein Ping-Pong-Verfahren« zwischen Verwaltung und Betreiber.

Koordinier­ung klappt nicht

Das ist nur ein kleines Beispiel, wie das Zusammensp­iel zwischen den verschiede­nen Akteuren derzeit nicht klappt. Verkehrs- und

Innenverwa­ltung, die Bezirke und weitere Verantwort­liche tragen gemeinsam zum Scheitern der Vorhaben bei. Wie viel die Umsetzung des Mobilitäts­gesetzes mit sicheren Radwegen, Kreuzungen, Schnellweg­en und weiterem kosten wird, weiß derzeit niemand. Einzig die Kostenschä­tzung des Senats zum Fahrrad-Volksbegeh­ren gibt einen Anhaltspun­kt: Zwei Milliarden Euro wurden dort veranschla­gt. »Den ganzen Vorgang in eine dysfunktio­nale Verwaltung zu kippen und zu hoffen, dass das Projekt bis 2030 umgesetzt ist, ist naiv«, sagt Masurat. Mangelnde Steuerung – ein Vorwurf, den sich Verkehrsse­natorin Regine Günther (Grüne) auch beim schleppend­en Tram-Ausbau anhören muss.

Lichtblick Pop-up-Fahrradweg­e

»Der Hoffnungss­chimmer, den wir haben, das sind die Pop-up-Radwege«, sagt Frank Masurat. Es sei ein »Wegkommen von einem verkopften Ansatz« gewesen. Statt wie bisher jahrelang zu planen, die Ergebnisse dann noch zwei Jahre in der Schublade liegen zu lassen, um schließlic­h festzustel­len, dass die Welt sich verändert hat, werde nun einfach ausprobier­t. »Am Kottbusser Damm ist geguckt worden, wie viele Lieferzone­n wir brauchen. Nach sieben, acht Monaten Erprobung können dann die Bagger kommen«, beschreibt der ADFC-Mann das Verfahren, das sich seiner Ansicht nach genauso auf Busspuren anwenden ließe. »Man braucht nur politische­n Willen und eine Klebemasch­ine«, sagt Masurat über die Pop-up-Radwege. Um bitter hinzuzufüg­en: »Im Moment scheitert es nicht an der Klebemasch­ine.« Herausrage­nd ist die Blockade von Maßnahmen, die den Autoverkeh­r einschränk­en, bei der Reinickend­orfer CDU-Verkehrsst­adträtin Katrin Schultze-Berndt. Am positiven Ende der Skala liegt Friedrichs­hain-Kreuzberg, wo die Initiative für Pop-up-Radwege herkam.

ADFC unterstütz­t Berlin autofrei

Der Fahrradclu­b hat noch viele weitere Ideen für die Verkehrswe­nde. So sollen 60 000 Parkplätze jährlich auf öffentlich­en Straßen wegfallen, die Parkraumbe­wirtschaft­ung ausgeweite­t werden und Anwohner-Parkauswei­se mindestens 240 Euro pro Jahr kosten. Klar sei, dass es »Push- und Pull-Maßnahmen« brauche, um den Autoverkeh­r zu reduzieren. Also einerseits Einschränk­ungen für den motorisier­ten Individual­verkehr und anderersei­ts attraktive Alternativ­en für den sogenannte­n Umweltverb­und aus Bahnen, Bussen, Rad und Fußverkehr.

»Wir sind von Anfang an im Dialog mit dem Volksbegeh­ren Berlin autofrei«, so Masurat. Die Initiative möchte den Autoverkeh­r in der Innenstadt radikal reduzieren und sammelt dafür derzeit Unterschri­ften. »Wenn es wirklich umgesetzt würde, was wir begrüßen würden, hätten wir 30 bis 40 Prozent weniger Autos«, sagt Masurat. »Allein die Diskussion dazu ist ein Riesenschr­itt für die Stadt.«

Welche Partei die Ziele des ADFC am ehesten umsetzen würde, darauf will sich Masurat noch nicht festlegen. Eine Auswertung sei in Vorbereitu­ng, spätestens im Juni soll es eine offizielle Wahlempfeh­lung geben.

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Auf der Charlotten­burger Kantstraße poppte 2020 ein Radweg auf.

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