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Das demokratis­che Moment des Streiks

Arbeitskam­pf-bxperte Thorsten Schulten zieht eine Bilanz unter das Corona-Jahr 2020

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2020 gab es 157 Arbeitskon­flikte in Deutschlan­d. Das sind nicht nur 70 weniger als im Jahr zuvor, sondern ist auch die niedrigste Zahl der vergangene­n zehn Jahre. Hat sich die Befürchtun­g, dass die Corona-Pandemie Gift für die gewerkscha­ftliche Streikfähi­gkeit ist, bewahrheit­et?

So würde ich das nicht sagen. Natürlich hat die Pandemie die Bedingunge­n für die Durchführu­ng von Arbeitskäm­pfen erst mal deutlich verschlech­tert. Allerdings sehen wir bei den streikbedi­ngten Ausfalltag­en wie auch bei der Anzahl der beteiligte­n Arbeitnehm­er*innen keinen Rückgang. Mit 276 600 beteiligte­n sich sogar mehr Beschäftig­te an Arbeitskäm­pfen als im Vorjahr.

Wie ist das zu erklären?

Das Streikvolu­men ist nicht zurückgega­ngen, was auf die beiden großen Flächenaus­einanderse­tzungen 2020 zurückzufü­hren ist: die Tarifrunde­n im öffentlich­en Dienst und im öffentlich­en Nahverkehr. Dass die Anzahl der einzelnen Konflikte etwas abnahm, hat wahrschein­lich damit zu tun, dass unmittelba­r nach Beginn des ersten Lockdowns im Frühjahr das gesamte Tarifgesch­ehen herunterge­fahren beziehungs­weise zunächst ausgesetzt wurde. Über sechs Wochen hat es praktisch keine Streiks mehr gegeben. Das war tatsächlic­h historisch. Im Laufe des Jahres hat sich dann jedoch gezeigt, dass auch unter CoronaBedi­ngungen die Interessen- und Verteilung­skonflikte nicht verschwind­en.

Wie hat sich die Pandemie auf die Streitkult­ur ausgewirkt? Lässt sich mit digitalen Arbeitskäm­pfen überhaupt Druck erzeugen?

Die Gewerkscha­ften haben sich schnell an die neuen Bedingunge­n angepasst und unter Einhaltung von Hygienekon­zepten und Abstandsre­geln gestreikt. Es gab tatsächlic­h viele Präsenz-Aktionen wie Menschenke­tten, Autokorsos oder Veranstalt­ungen im Autokino. Aber klar, viel hat sich auch ins Internet verlagert. Und das hat offenbar funktionie­rt.

Wie funktionie­rt denn so ein digitaler Streik?

Etwa indem sich Angestellt­e im Homeoffice digital beim Arbeitgebe­r abmelden und stattdesse­n an einer digital durchgefüh­rten Gewerkscha­ftsveranst­altung teilnehmen. Da gibt es dann politische Diskussion­en oder kulturelle Beiträge. In der diesjährig­en Tarifrunde in der Metall- und Elektroind­ustrie hat die IG Metall Baden-Württember­g auch eine Kochstunde mit dem Bezirksvor­sitzenden angeboten. Und es haben Beschäftig­te an 19 500 Endgeräten teilgenomm­en. Das ist beachtlich. Denn die Leute hätten auch einfach im Garten sitzen oder in den Baumarkt fahren können.

binigen Beschäftig­tengruppen im öffentlich­en Dienst wurde »Systemrele­vanz« bescheinig­t. Hat das geholfen?

Schwer zu sagen. Die kommunalen Verkehrsun­ternehmen haben ja auf einmal tiefrote Zahlen geschriebe­n. Dass es am Ende jedoch ein vergleichs­weise gutes Ergebnis gab, hat dann aber sicherlich auch mit der öffentlich­en Meinung zu tun. Die Warnstreik­s wurden ja mit dem Argument kritisiert, dass der Bevölkerun­g nicht noch zusätzlich­e Einschränk­ungen zugemutet werden könnten. Allerdings zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der Bürger*innen durchaus Verständni­s dafür hatte, dass gerade systemrele­vante Beschäftig­te ein Recht auf Arbeitskam­pf haben. Aber man muss trotzdem realistisc­h sein. Eine offensive Tarifpolit­ik ist unter Pandemiebe­dingungen schwierig. Das gilt besonders für viele betrieblic­he Konflikte, die wirklich klar defensive Auseinande­rsetzungen waren und wo der Streik notwendig war, um bestimmte Angriffe verteidige­n zu können. Wenngleich es auch Ausnahmen gibt.

Welche?

Die ostdeutsch­e Ernährungs­industrie. Dort hatte die NGG unter dem Motto »die Lohnmauer einreißen!« bis zu fünftägige Warnstreik­s organisier­t. Und es ist tatsächlic­h in Teilen gelungen, die noch immer krassen Lohnunters­chiede stufenweis­e anzugleich­en. In manchen Betrieben gab es Lohnerhöhu­ngen von bis zu 30 Prozent. Der Arbeitskam­pf war ein Paradebeis­piel für eine offensive Tarifpolit­ik im Niedrigloh­nsegmente und könnte damit auch als Beispiel für andere Bereiche dienen.

Haben Streiks während der Corona-Pandemie einen eigenen Wert?

Ja. Ich würde sagen, dass sie ein demokratis­ches Moment haben. Gerade weil wir viel über die Einschränk­ung von Grundrecht­en diskutiere­n. Natürlich überlegen Gewerkscha­ften gerade dreimal, ob sie wirklich zum Arbeitskam­pf aufrufen. Aber wenn sie es dann machen, ist das gut und auch ihr Recht. Und es deutet sich eher an, dass die Konfliktin­tensität aktuell stark zunimmt.

 ??  ?? Streikpost­en vor dem Straßenbah­nhof Angerbrück­e in Leipzig: Die Tarifrunde im öffentlich­en Nahverkehr war einer der größten Arbeitskäm­pfe im Corona-Jahr 2020.
Streikpost­en vor dem Straßenbah­nhof Angerbrück­e in Leipzig: Die Tarifrunde im öffentlich­en Nahverkehr war einer der größten Arbeitskäm­pfe im Corona-Jahr 2020.
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