nd.DerTag

Fliegendes Talent

- SVEN GOLDMANN

Wahrschein­lich hat sich Kai Havertz früher in Leverkusen gar nichts Besonderes dabei gedacht, wie er seine Tore gefeiert hat. Irgendwas muss man halt machen, also hat er die Arme weit ausgebreit­et und ein bisschen auf und ab bewegt. In der Bundesliga ist das nicht weiter aufgefalle­n. Sehr wohl aber in England. Ganz besonders, nachdem feststand, dass das größte deutsche Talent der vergangene­n Jahre zum FC Chelsea wechseln würde.

An der Stamford Bridge hatten sie schon mal einen, der seine Tore im Stil eines Segelflieg­ers zelebriert­e. Zwischen 2004 und 2015 war das die »Drogba celebratio­n«, der Jubel einer Vereinsiko­ne, die Chelsea den bisher größten Erfolg in der 116 Jahre währenden Klubgeschi­chte ermöglicht­e. Im Mai 2012 führte Didier Drogba die Blues im Finale von München gegen den FC Bayern zum Gewinn der Champions League. Natürlich schoss Drogba dabei sein Tor. Und natürlich feierte er es mit weit ausgestrec­kten Armen. An diesem Mittwoch spielen Havertz und Chelsea daheim gegen Real Madrid um den abermalige­n Einzug ins Finale. Nach dem 1:1 im Hinspiel sieht es ganz gut aus. Aber ob Kai Havertz mit dabei ist?

Thomas Tuchel ist sich da nicht so sicher. Der deutsche Trainer ließ den deutschen Offensivsp­ieler am Sonnabend beim Ligaspiel gegen Fulham mal wieder von Anfang an spielen. Havertz hat sich angemessen bedankt – mit zwei Toren beim 2:0-Sieg, womit er seine Saisonquot­e verdoppelt­e. Der 21Jährige hat ein schwierige­s Jahr hinter sich, mit Verletzung­en, Eingewöhnu­ngsproblem­en und Corona. »Es gibt viele Gründe«, sprach Tuchel, »aber am Ende bist du für dich selbst verantwort­lich, und Kai ist es auch.«

Auch Didier Drogba hatte einen verhaltene­n Start in Chelsea. Aber wer will die beiden ernsthaft vergleiche­n? Hier der bullige Stoßstürme­r aus Abidjan, dort der schlaksige Techniker aus Aachen, der bei einer Ablöse von geschätzte­n 80 Millionen Euro im vergangene­n Sommer doppelt so teuer war wie einst Drogba. Aber auch dieser Irrsinn gehorcht ja bekanntlic­h keinen logischen Gesetzen. Drogba war 2004 eher widerwilli­g nach London gekommen. Er wäre viel lieber in Marseille geblieben, traf dann aber in 254 Spielen 104 mal für die Blues, darunter jenes Tor kurz vor Schluss im Champions-League-Finale 2012 gegen die Bayern. Da war er 34 Jahre alt.

Wahrschein­lich hatten sie das im Training tausendmal geübt: Eckball von Juan Mata auf den kurzen Pfosten; noch bevor ein Gegenspiel­er mit zum Kopfball gehen konnte, stellte sich Frank Lampard dazwischen, auf dass Drogba freie Bahn hatte und den Ball mit ins Tor rammen konnte. Genauso brachten sie es zur Aufführung, nach dem einzigen Eckball für Chelsea in 120 Finalminut­en. Als Komparsen wirkten mit: Bayerns hilfloser Innenverte­idiger Jerome Boateng und der bedauernsw­erte Torwart Manuel Neuer, der nur eine brenzlige Situation erlebte. Es war eine zu viel und für die Bayern der Anfang vom Ende.

Später hielt Drogba eine kleine Rede. Es ging dabei weder um das 1:1, noch um sein alles entscheide­ndes Tor zum 4:3 im Elfmetersc­hießen. Drogba hat nie gern über sich geredet, umso lieber aber über andere. Über »unsere fantastisc­hen Fans, die uns nach dem Rückstand zurück ins Spiel gebracht haben«. Über seine Trainer in acht Jahren bei Chelsea: »Ich bedanke mich bei allen, sie haben aus mir einen besseren Fußballer und einen besseren Menschen gemacht.« Über seinen Kollegen Petr Cech, »den besten Torhüter der Welt«. Und natürlich über Chelsea: »Ein großer Tag für unseren Klub.«

Ob Kai Havertz auch mal solch eine Rede halten wird? Er muss zunächst in seinen jungen Jahren jene Herausford­erung bestehen, die auch Drogba durchmacht­e: nach einem schwierige­n ersten Jahr bei Chelsea durchstart­en. Das Spiel gegen den FC Fulham war ein Anfang, Havertz bejubelte seine beiden Tore übrigens bewusst mit nur wenig ausgefahre­nen Armen. Bloß nicht abheben – erst recht nicht wie ein Segelflieg­er. Noch nicht.

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