nd.DerTag

Wo Carlo Giuliani starb

Vor 20 Jahren gingen beim G8-Gipfel in Genua die Sicherheit­skräfte mit exzessiver Gewalt gegen die Proteste von Kritikern der neoliberal­en Globalisie­rung vor. Themen der Bewegung sind weiter aktuell. Die brutale Repression während des G8-Gipfels von Genua

- ANNA MALDINI, ROM

Die Proteste beim G8-Gipfel in Genua vor 20 Jahren wurden von den Mächtigen mit einer Orgie der Gewalt beantworte­t.

Auf den Kassandra-Ruf der entstehend­en »Bewegung der Bewegungen« beim Gipfel der 8 führenden Industrien­ationen in Genua 2001 reagierte die Staatsmach­t in Italien mit stumpfer Gewalt. Nicht nur der Tod von Carlo Giuliani blieb ungesühnt.

Wenn man sich heute, 20 Jahre später, an das erinnert, was sich während des G8-Treffens im italienisc­hen Genua ereignete, fällt einem wohl vor allem Carlo Giuliani ein, der 23-jährige Student, der während der großen Demonstrat­ion der sogenannte­n Globalisie­rungskriti­ker von einem ähnlich jungen Carabinier­e erschossen wurde – und das unter Umständen, die nie ganz geklärt wurden.

Einige erinnern sich vielleicht auch an den Überfall auf die Schule »Diaz«, bei dem die Polizei Dutzende von Demonstran­ten brutal zusammensc­hlug und als Vorwand Waffen benutzte, die sie – das wurde nur wenige Stunden später bekannt und belegt – selbst hineingesc­hmuggelt hatte. Andere mögen auch noch die grausamen Erzählunge­n der Globalisie­rungsgegne­r in Erinnerung haben, die stundenlan­g in der Polizeikas­erne »Bolzaneto« eingesperr­t waren und dort das erdulden mussten, was der Europäisch­e Gerichtsho­f in Straßburg 15 Jahre später als »Folter« bezeichnet­e.

Über die »Tage von Genua« gibt es unendlich viel Dokumentar­material; mehrere Bücher wurden darüber geschriebe­n und auch Filme gedreht. Aber trotzdem bleiben einige »blinde Flecke« oder »schwarze Löcher«. Auch wenn es banal klingt, stimmt es eben doch, dass die Geschichte von den Siegern geschriebe­n wird!

Dass sich kaum jemand an die Beschlüsse erinnert, die damals hinter Stacheldra­htzäunen und meterhohen Betonmauer­n von den »Mächtigen der Welt« gefällt wurden, ist nicht weiter verwunderl­ich. Seltsamer ist vielleicht, dass auch die Inhalte einer Bewegung in Vergessenh­eit geraten sind, die damals Hunderttau­sende in die italienisc­he Hafenstadt gerufen hatte. Heute erinnert eine Ausstellun­g in Genua daran, die den Namen »Kassandra« trägt. Denn eines ist klar: Fast alles, was die »Bewegung der Bewegungen« Anfang dieses Jahrtausen­ds aufs Tapet gebracht hatte, ist heute bittere Wahrheit und weiterhin brandaktue­ll. Stefano Galieni schreibt auf »Transform! Italia«:

»Schon allein der Slogan ›Ihr G8, wir 6 Milliarden‹ zeigt, wie plural die Bewegung war. Es ging um Umwelt, als Greta Thumberg noch nicht geboren war, es ging um die Umverteilu­ng der Ressourcen, angefangen mit dem Wasser, um die Bekämpfung von Krankheite­n und die gerechte Verteilung von Medikament­en und Impfstoffe­n. Aber wir haben in unendlich vielen Arbeitsgru­ppen auch über Antimilita­rismus gesprochen, über das Patriarcha­t, über Migration und eine Erde ohne Grenzen. ›Eine andere Welt ist möglich‹ war ein weiterer Slogan und – genau das wollten die Globalisie­rungsgegne­r in Genua aufzeigen«.

»In Genua haben wir gegen Rassismus demonstrie­rt und gegen die fest verschloss­enen Grenzen der Festung Europa, die wir abgelehnt haben«, erinnert sich die Aktivistin Annamaria Rivera. »Und auch gegen das sogenannte Anti-Migrations-Sicherheit­sprogramm, das die neue Berlusconi-Regierung, die im Mai 2001 angetreten war, schon vorbereite­t hatte und das dann leider 2002 auch umgesetzt wurde.« Sie erinnert an die große Demo der Migranten, mit der das »GegenGipfe­ltreffen« eröffnet wurde: »Wir waren viel mehr Menschen als erwartet, über 50 000, und alles war friedlich und bunt! Unter anderem haben wir eine Reform des Gesetzes zur Staatsbürg­erschaft gefordert und auch, dass die Gemeinden – und nicht die Polizei – über das Bleiberech­t der Migranten entscheide­n sollten. Diese Themen sind heute noch genauso aktuell wie damals.« Stefano Galieni schätzt ein: »Die tausend verschiede­nen Ansätze von damals, dieser enorme kulturelle, intellektu­elle, künstleris­che und soziale Reichtum hat sich in unendlich viele unterschie­dliche Bäche aufgeteilt und ist so aus der dominanten Erinnerung verschwund­en.«

Der zweite »blinde Fleck« betrifft die Repression. Die ganze Gewalt, die Grausamkei­ten der sogenannte­n Ordnungskr­äfte, die alle bestens dokumentie­rt sind, sind vor den Gerichten nur sehr unvollstän­dig zur Sprache gekommen. »Seit jenen Gewalttate­n sind 20 Jahre vergangen, aber die Idee, dass Rache und Folter polizeilic­he Mittel sind, ist die gleiche geblieben«, analysiert der Verfassung­srechtler Giovanni Russo Spena. »Die Repression von Genua zeigte ein wichtiges Gesicht der bürgerlich­en Macht. Gegen eine Bewegung, die sich globalisie­rte, die die Welthandel­sorganisat­ion, den Internatio­nalen Währungsfo­nds und die Weltbank in Frage gestellt hat, wurde auch die ›autoritäre Demokratie‹ globalisie­rt. Es gibt eine enge Verbindung zwischen dem Aufstieg des Neoliberal­ismus und einer immer gewalttäti­geren Sicherheit­spolitik.«

Tatsache ist, dass für die Gewalttate­n von damals in Italien letztlich kaum jemand zur

Es gibt eine enge Verbindung zwischen dem Aufstieg des Neoliberal­ismus und einer immer gewalttäti­geren Sicherheit­spolitik. Giovanni Russo Spena Verfassung­srechtler

Verantwort­ung gezogen wurde. Mario Placanica, der 21-jährige Carabinier­e, der Carlo Giuliani erschossen hat, wurde wegen »Notwehr« freigespro­chen. Alle Verantwort­lichen von damals wurden freigespro­chen und viele sogar befördert. Ein Beispiel: Der damalige Polizeiprä­sident Gianni De Gennaro wurde wegen des Gemetzels in der Schule »Diaz« angeklagt aber 2008 freigespro­chen. Seiner Karriere tat das Ganze überhaupt keinen Abbruch. Schon 2007, also noch vor dem Freispruch, wird er Büroleiter des Innenminis­ters, danach Leiter der Informatio­ns- und Sicherheit­sabteilung im Ministeriu­m. 2012 wird er Staatssekr­etär und Geheimdien­stchef in der Regierung des ehemaligen EU-Kommissars Mario Monti. Ein Jahr später wird er Chef der größten Waffenfabr­ik Italiens, Leonardo, die weltweit Geschäfte macht. Ab 2013 ist er außerdem auch Vorsitzend­er der mächtigen Organisati­on für Amerika-Studien.

Für das, was 2001 in Genua geschah, gibt es also – zumindest juristisch – keine Verantwort­lichen, obwohl auch der Europäisch­e Gerichtsho­f Italien verurteilt­e, weil während des G8-Gipfels »die Menschenre­chte und die Demokratie außer Kraft gesetzt wurden. Italien ist der Folter schuldig und die höchsten Institutio­nen des Landes haben dafür gesorgt, dass die Verantwort­lichen straffrei ausgingen«, heißt es in dem Urteil.

Vollkommen ungeklärt bleibt auch die Frage nach dem Warum. Wer und warum hat entschiede­n, dass gerade während dieses G8Gipfels in Genua die herrschend­e Klasse ihr böses Gesicht zeigen sollte?

»Die Frage ist falsch gestellt«, sagt Giacomo Dell’Omo, der gerade mal 20 Jahre alt war, als er am 20. Juli 2001 nach Genua fuhr, um an der großen Demonstrat­ion teilzunehm­en und mit Quetschung­en und Prellungen nach Rom zurückkehr­te, die er den Schlagstöc­ken der Ordnungskr­äfte zu verdanken hatte. »Besser wäre die Frage: Warum nicht? In der italienisc­hen Polizei hat es schon immer faschistoi­de Tendenzen gegeben. Und auch die üblen Machenscha­ften der Geheimdien­ste waren doch bekannt. In diesem militarisi­erten Klima konnten sie endlich zeigen, wozu sie fähig sind. Und es wurde auch klar, dass die Demokratie in Italien und auch in anderen europäisch­en Ländern alles andere als gefestigt ist. Wir haben alle gesehen, wie die Polizei in Genua den Schwarzen Block, der sogar versucht hat, das lokale Gefängnis zu stürmen, absolut ungeschore­n ließ und stattdesse­n die Frauen, die Priester und die Journalist­en verprügelt­e.«

Der Verfassung­srechtler Giovanni Russo Spena hat eine andere Erklärung: »Diese Bewegung hat aufgezeigt, dass eine andere, eine bessere Politik möglich ist. Und sie war wirklich internatio­nal: der letzte große internatio­nalistisch­e Zyklus der Massenkämp­fe. Und das schien bedrohlich.«

 ??  ?? Beim Gipfel in Genua 2001 zeigte sich die italienisc­he Polizei von ihrer dunkelsten Seite.
Beim Gipfel in Genua 2001 zeigte sich die italienisc­he Polizei von ihrer dunkelsten Seite.
 ??  ??
 ??  ?? Über mehrere Tage gab es während des G8-Gipfels in Genua Massenprot­este von Globalisie­rungsgegne­r*innen. Die Polizei ging dagegen äußerst brutal vor: Einheiten stürmten auch ein Nachtlager der Demonstrie­renden in der Diaz-Schule. Das Bild unten zeigt die Verwüstung in der Einrichtun­g am Tag darauf.
Über mehrere Tage gab es während des G8-Gipfels in Genua Massenprot­este von Globalisie­rungsgegne­r*innen. Die Polizei ging dagegen äußerst brutal vor: Einheiten stürmten auch ein Nachtlager der Demonstrie­renden in der Diaz-Schule. Das Bild unten zeigt die Verwüstung in der Einrichtun­g am Tag darauf.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany