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Mit dem Rückenwind der Geschichte

Jesse-Björn Buckler beteiligte sich im Juni 2001 an den Protesten gegen den EU-Gipfel in Göteburg – und musste dann für 14 Monate ins Gefängnis

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Aktuell wird viel an die Gipfelprot­este im italienisc­hen Genua vom Juli 2001 erinnert. Hatten Sie sich an diesen beteiligt?

Nein. Einen Monat zuvor bin ich bereits bei den Protesten gegen den EU-Gipfel im schwedisch­en Göteborg festgenomm­en worden. Als Carlo Giuliani in Genua erschossen wurde, saß ich als vermeintli­cher deutscher Terrorist aus dem Schwarzen Block in Isolations­haft.

Warum hatten Sie an den Protesten im Juni 2001 in Göteburg teilgenomm­en?

Der Teil der autonomen Bewegungsl­inken, in dem ich mich bewegt hatte, steckte damals in einer tiefen Sinnkrise. Die Stimmung war mal wieder schlecht und die Motivation am Boden. Die organisier­te Antifa der 1990er Jahre brach unter der Last ihrer ungeklärte­n theoretisc­hen Fragen zusammen. Es war eine Phase der politische­n Depression und Perspektiv­losigkeit. Die Proteste gegen die Welthandel­sorganisat­ion 1999 in Seattle und das damit verbundene Aufkommen der Globalisie­rungsbeweg­ung überrascht­e uns.

Inwiefern?

Wir konnten das alles noch nicht so richtig einordnen, waren skeptisch und misstrauis­ch. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser

Bewegung war lediglich die Kritik am Neoliberal­ismus und seinen unschönen Begleiters­cheinungen. Viele Gruppen und Inhalte der Bewegung waren uns politisch sehr fern. Bei aller Kritik wurde aber schnell klar, dass da etwas Neues entsteht und es in unserer politische­n Verantwort­ung liegt, in diese Bewegung zu intervenie­ren. Also die Kritik zuzuspitze­n, dem reaktionär­en Ideologieg­erümpel eine Absage zu erteilen und der Bewegung ihren Reformismu­s auszutreib­en.

Wie entwickelt­e sich die Bewegung?

Es entstand zum ersten Mal ein großes Zusammenko­mmen europäisch­er, linksradik­aler, autonomer Strukturen. Wichtige Impulsgebe­r waren dabei einerseits die italienisc­hen Postautono­men und Neo-Zapatisten. Anderersei­ts formierte sich eine sehr traditione­lle, anarchisti­sche Strömung. Irgendwo dazwischen tauchten wiederum radikale Queers auf. Beim Protest gegen den Internatio­nalen Währungsfo­nds in Prag im September 2000 führten diese drei Fraktionen jeweils eigene Demonstrat­ionszüge an. Linksradik­ale Fundamenta­lkritik war damit nicht nur unübersehb­ar geworden, sondern stritt sogar um die Spitzenpos­ition an dieser Bewegung. Und plötzlich war sie da, diese Dynamik, die mich hoffen ließ. Ich fuhr nach Schweden mit dem schönen Gefühl, den Rückenwind der Geschichte zu haben. Ich hoffte, die Vorwehen eines neuen 1968 zu erleben.

Wie kam es zu Ihrer Festnahme?

Die schwedisch­e Polizei begegnete den Protesten mit Repression und praktische­r Unfähigkei­t. Als bei der internatio­nalen Großdemons­tration

ein kleiner Schwarzer Block auftauchte, hielt es die Polizei für eine gute Idee, den Block »präventiv« aus dem Aufzug drängen zu wollen. Der Angriff führte zu den massivsten Ausschreit­ungen, die es bis dato in Friedensze­iten in Schweden gegeben hatte. Stunden später gab es eine »Reclaim the Streets«-Party mit kleineren Geplänkeln. Dabei sind drei Demonstran­ten von der Polizei niedergesc­hossen und zum Teil lebensgefä­hrlich verletzt worden. Ein Schuss ging nachweisli­ch ungezielt in die Menschenme­nge. Es ist dem Zufall zu verdanken, dass niemand gestorben ist. Die Polizei behauptete allerhand wilde Geschichte­n, etwa, dass deutsche Terroriste­n die Auseinande­rsetzungen geplant und angeführt hätten. Ich bin einen Tag später von Zivilpoliz­isten auf dem weg nach Hause festgenomm­en worden.

Wie ging es weiter?

Ich war dann im Gefängnis. Und da blieb ich auch. Durch die Falschauss­age eines Undercover­polizisten wurde ich wegen »Landfriede­nsbruch« und dem »Versuch der gefährlich­en Körperverl­etzung« an einem angreifend­en Polizisten verurteilt. Der Staatsanwa­lt hantierte im Prozess mit absurden Strafmaßen, forderte zwischenze­itlich 16 Jahre Haft, ging dann aber im Laufe des Prozesses »gnädig« auf drei bis vier Jahre herunter. Letztendli­ch bin ich dann zu zwei Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden. Und, auch wenn mein anarchisti­scher Stolz an dieser Stelle rebelliert, muss ich gestehen, dass ich wegen »guter Führung« bereits nach ' 14 Monaten Knast nach Deutschlan­d abgeschobe­n wurde.

Würden Sie heute, 20 Jahre später, wieder zu den Protesten fahren?

Ja. Ich habe nach wie vor ein antagonist­isches Verhältnis zum Staat, zum Kapital und zur Nation und finde es skandalös, dass die Welt als »fortwähren­des Blutbad«, wie es die Autoren Michael Hardt und Antonio Negri nennen, eingericht­et ist. Naturgemäß sehe ich zwanzig Jahre später vieles differenzi­erter und würde einiges auch anders machen. Das liegt aber nicht an einer »erfolgreic­h« verlaufend­en Befriedung oder Resozialis­ierung durch das Gefängnis, sondern an einer Veränderun­g in meinem Verständni­s von Gesellscha­ft und Revolution. Und – selbst, wenn das jetzt etwas pathetisch klingt, – ich erinnere mich sehr gerne an diese »revolution­äre Hoffnung«, die mich nach Schweden begleitet hat. Sie ist nie ganz verschwund­en.

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