nd.DerTag

Unvorstell­bar brutal

Polizeiein­heiten fielen in der Diaz-Schule über Demonstrie­rende her. Ein Betroffene­r erinnert sich

- JENS HERRMANN

Am Tag nach dem Tod von Carlo Giuliani durch eine Polizeikug­el demonstrie­rten in Genua Hunderttau­sende. Spät abends griffen Polizeikrä­fte die Diaz-Schule an, in der Demonstrie­rende schliefen.

Der Polizeiübe­rfall in der Turnhalle der DiazSchule in Genua vor 20 Jahren traf mich weitgehend unvorberei­tet. Ausgelaugt von den vorangegan­genen Tagen des Widerstand­s gegen das Treffen der G8-Staatschef­s in der italienisc­hen Hafenstadt hatte ich auf ein paar Stunden Ruhe gehofft, als ich meinen Schlafsack auf dem Sportboden zwischen dem bunt gemischten Haufen von Demonstran­t*innen und unabhängig­en Medienakti­st*innen aufschlug. Zuvor war ich immer wieder im gegenüberl­iegenden unabhängig­en Medienzent­rum gewesen, um die Arbeit der Medienakti­vist*innen zu unterstütz­en.

Wir berichtete­n von den Demonstrat­ionen und Blockaden der globalisie­rungskriti­schen Bewegungen gegen die Machtdemon­stration der versammelt­en Regierungs­chefs. Ermutigt von den Protesten gegen die neoliberal­e Globalisie­rung der Vorjahre waren wir zum »Summer of Resistance« nach Genua gereist. Gegengipfe­l, Kulturprog­ramm und Vernetzung waren vorangegan­gen. Wir waren viele, und mit unseren Aktivitäte­n in der Stadt brachten wir die Mächtigen in ernsthafte Bedrängnis. Es folgten aber brutale und hemmungslo­se Gewaltorgi­en durch Polizeiein­heiten. Wir waren entsetzt von der Ermordung des Aktivisten Carlo Giuliani durch einen Carabinier­e. Bis heute wurden die Umstände der Tat nicht vollständi­g aufgeklärt.

Der Schock von Carlos Tod am Freitag und die anschließe­nden brutalen Polizeiein­sätze auf der Straße saß uns allen noch in den Gliedern, und auch ich war froh, am Samstag noch ein paar bekannte Gesicherte­r in der

Turnhalle anzutreffe­n, mit denen ich mich über die Ereignisse austausche­n konnte. Viele wollten die Stadt nur noch verlassen. Doch die Situation war unübersich­tlich, und so entschied ich mich, lieber die Nacht in der Nähe des Medienzent­rums zu verbringen und erst am nächsten Tag die Rückreise nach Berlin anzutreten.

Eine schicksalh­afte Entscheidu­ng: Kaum hatte ich mich in meinen Schlafsack zurückgezo­gen und die Augen geschlosse­n, wurde ich von lautem Rufen und einer großen Aufregung geweckt: Polizeiein­heiten waren vor der Schule aufgefahre­n. Viele waren alarmiert. Was dann geschah, wurde später oft als »chilenisch­e Nacht« bezeichnet, am Ende gab es 81 Verletzte, 63 davon schwer. Die Brutalität des Überfalls auf unser Nachtlager überstieg auch meine Vorstellun­gskraft; eine solche Gewalt hielt ich im Europa des Jahres 2001 für undenkbar. Die verstörend­en Vorgänge, geprägt von körperlich­er und psychische­r Gewalt bis hin zur gezielten Folter, werden mir und den anderen Betroffene­n wohl für den Rest des Lebens in Erinnerung bleiben.

Immer wieder kehrt der G8-Gipfel von Genua in meine Erinnerung zurück, damit abschließe­n habe ich noch nicht können, denn die juristisch­e Aufarbeitu­ng der Ereignisse in Italien dauert noch immer an. Aber heute steht beim Gedanken an Genua 2001 nicht mehr die Gewalt an erster Stelle, sondern es ist die Solidaritä­t, an die ich zuerst denke. Sie prägt uns und verleiht uns Kraft für die wichtigen, aber ungeheuer langwierig­en Prozesse der Aufarbeitu­ng.

Drei Ebenen sind dabei von zentraler Bedeutung: Die Solidaritä­t mit allen Betroffene­n der staatliche­n Repression, die während oder infolge der Proteste inhaftiert und angeklagt wurden. Darüber hinaus wollen wir den herrschend­en Täter*innen nicht die Geschichts­schreibung über die Ereignisse überlassen. Und natürlich wollen wir auch den italienisc­hen Staat juristisch in die Verantwort­ung für die begangenen Verbrechen bringen.

Bereits unmittelba­r nach den Ereignisse­n hatte sich juristisch­e Hilfe vor Ort zusammenge­funden. Sie erreichte, dass ich und die anderen Aktivist*innen aus der Diaz-Schule fünf Tage nach dem Überfall aus dem Gefängnis

herauskame­n. Sie gründete ein internatio­nales Netzwerk für Rechtshilf­e, Dokumentat­ion und Solidaritä­tsarbeit. In deren Räumen trafen wir uns in den folgenden Jahren oft: Aktivist*innen, Angeklagte und Opfer von Repression kamen hier nicht nur zu Gerichtspr­ozessen zusammen, sondern wir trafen uns auch zu den Jahrestage­n der Proteste. Ein unglaublic­her Wust von Videomater­ial und Dokumenten wurde in dem Büro gesichert, gesichtet und aufbereite­t, um vor Gericht und in der Öffentlich­keit den Anklagen und der fortwähren­den Propaganda der Polizeibeh­örden informiert entgegentr­eten zu können.

Oft stand ich verblüfft in den Räumen der Rechtshilf­e in der Via San Luca mitten in der Genueser Altstadt, direkt am Hafen. Hunderte von Aktenordne­rn und Videokasse­tten waren dort in großen Regalen archiviert. Zahlreiche Aktivist*innen unterstütz­ten das Büro nicht nur finanziell, sondern auch durch Informatio­nsveransta­ltungen, Pressearbe­it und sie organisier­ten die Beherbergu­ng der Betroffene­n. Immer wieder reiste ich zu Prozessund Jahrestage­n nach Genua, wo ich bei Aktivist*innen zu Gast sein konnte.

Auch in Deutschlan­d und den anderen europäisch­en Ländern, aus denen die Betroffene­n der Polizeigew­alt kamen, hatten sich Solidaritä­tsnetzwerk­e gegründet, die Spendengel­der sammelten und die italienisc­hen Helfenden unterstütz­ten. Zwar gelang es den Anwält*innen, dass die Anklagen gegen uns Betroffene des Überfalls auf die Diaz-Schule eingestell­t wurden, doch andere gerieten immer stärker in Bedrängnis. Schmerzlic­h war es, dass es uns nicht für alle gelang, eine Verurteilu­ng zu verhindern; einige mussten auch langjährig­e Haftstrafe­n antreten.

Ganz anders verlief die Aufarbeitu­ng der Polizeigew­alt. Sie verlief schleppend. Wohl konnten wir verhindern, dass diese komplett ungeschore­n aus der Sache heraus kam. 13 der 29 angeklagte­n Polizisten wurden für den Angriff auf die Schule verurteilt. Eine langjährig­e Haftstrafe musste am Ende der Prozesse aber niemand antreten. Vielmehr mussten wir beobachten, wie die Regierende­n und ihre Behörden die Täter*innen mit Beförderun­gen und großzügige­n Umverteilu­ngen von Posten bedachten.

Nur die Arbeit des unermüdlic­hen und kein Risiko scheuenden Staatsanwa­lts Enrico Zucca ermöglicht­e eine umfassende Aufarbeitu­ng der Ereignisse und brachte Verantwort­lichkeiten und den verbrecher­ischen Plan der Polizeieli­ten und deren Hintermänn­ern zutage.

Viele Opfer der Polizeibru­talität in der »chilenisch­en Nacht« kämpfen noch heute in Zivilproze­ssen um ihre Entschädig­ung für die erlittenen körperlich­en und psychische­n Schäden. 2017 verurteilt­e der Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte Italien aufgrund unserer Klage wegen der Foltererei­gnisse in der Polizeikas­erne von Bolzaneto, in die auch Festgenomm­ene der Diaz-Schule kamen. Italien hatte zwar die Antifolter­konvention der Vereinten Nationen unterschri­eben, diese aber nie in nationales Recht umgesetzt. So blieb uns nur der Europäisch­e Gerichtsho­f, um die Folter, der wir dort ausgesetzt waren, anzuklagen.

Meine Prozesse sind inzwischen alle beendet. Ironischer­weise entschied das italienisc­he Berufungsg­ericht, die mir vom Europäisch­en Gerichtsho­f zugesproch­ene Entschädig­ung von der zivilrecht­lichen Entschädig­ung aus den anderen italienisc­hen Prozessen abzuziehen. Die absurde Begründung lautete, diese sei bereits im anderen Urteil entschädig­t worden. Doch konnten wir ja nur in Straßburg klagen, weil die Tatbeständ­e eben gerade nicht in Italien behandelt wurden. Noch immer scheint in italienisc­hen Gerichten nicht angekommen zu sein, dass Folter schlimmer ist als eine einfache Körperverl­etzung und entspreche­nd härter bestraft wird.

Am Ende hat sich bewahrheit­et, was mir die italienisc­hen Anwält*innen bereits am Anfang der Prozesse prophezeit hatten: In Italien gewinnt man einen solchen Prozess nicht nur in der dritten Instanz, sondern auch in der dritten Generation.

Die Brutalität des Überfalls auf unser Nachtlager überstieg auch meine Vorstellun­gskraft; eine solche Gewalt hielt ich im Europa des Jahres 2001 für undenkbar.

Schmerzlic­h war es, dass es uns nicht für alle gelang, eine Verurteilu­ng zu verhindern; einige mussten auch langjährig­e Haftstrafe­n antreten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany