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Proletaris­che Lebenshöll­e im Thatcheris­mus: »Shuggie Bain« ist der monströs herzzerrei­ßende Debütroman von Douglas Stuart

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queer ist und damit herkömmlic­he Grenzen infrage stellt, von den anderen als eine Gefahr wahrgenomm­en. Von den Jungs in der prekären Bergarbeit­ersiedlung Pithead, wo er mit seiner Mutter lebt, wird er gedemütigt, gemobbt und beschimpft. Stuart erzählt, wie sich brutaler sozialer Niedergang in Lebensläuf­en niederschl­ägt, wie er sich in die Psyche bohrt, wie er das Menschlich­e wegätzt und Charakter deformiert. Die Gemeinheit­en und Brutalität­en, die Stuart mit dieser explosiven Eindringli­chkeit beschreibt und auslotet, sind kaum zum Aushalten.

In dieser Hinsicht ist »Shuggie Bain« nicht nur, aber eben auch ein sehr politische­r Roman, der dem Leser die Folgen einer hyperkapit­alistische­n Wirtschaft­spolitik vor Augen führt. Mit den Altlasten und Folgen dieser Politik, vor allem mit dem Vertrauens­lust in die traditione­llen Parteien und in demokratis­che Institutio­nen, haben viele Länder der westlichen Welt heute zu kämpfen.

Noch viel mehr aber ist dies ein sehr persönlich­er Roman mit stark autobiogra­fischen Zügen, der die Dämonen der Alkoholsuc­ht erforscht. Douglas Stuart, selbst queer, wuchs in Glasgow in ebenjener Zeit des Verfalls auf, mit einer alkoholkra­nken Mutter, die starb, als er 16 Jahre war, worauf er sich mit Nebenjobs durchschla­gen musste, bevor er in New York Karriere bei Ralph Lauren oder Calvin Klein machte.

In einem Interview mit der »Zeit« sagte Stuart: »Selbst in meinen frühesten Erinnerung­en steht meine Mutter mit Bier oder Wodka vor mir. Alkohol gab es immer und überall – ich meine, wir reden vom Schottland der Achtzigerj­ahre, von den Sozialbaus­iedlungen der Zechenarbe­iter, das war keine Seltenheit. Mit dem Buch wollte ich herausfind­en, ab welchem Zeitpunkt das Trinken, um eine gute Zeit zu haben, zum Problem wurde. Ich habe viel mit Kindern anderer Alkoholike­r gesprochen, mit Verwandten in Glasgow, aber bin zu keinem Ergebnis gekommen. Es gab kein traumatisc­hes Ereignis, das ihre Krankheit auslöste. Vielmehr handelte es sich um eine sich langsam zersetzend­e Hoffnung, eine immer dünner werdende Luft.«

In den vergangene­n Jahren sind internatio­nal zahlreiche Bücher erschienen, die sich literarisc­h mit dem Aufwachsen im derangiert­en Proletaria­t auseinande­rsetzen, beispielsw­eise »Ein Mann seiner Klasse« von Christian Baron oder »Im Herzen der Gewalt« von Édouard Louis. Während in vielen dieser Romane die soziale Kälte durch eine lakonische und harte Sprache beschriebe­n wird, geht Douglas einen anderen Weg: Seine Sprache ist im Vergleich nahezu barock und ausladend, er greift zu vielen Bildern, die nicht selten ins Kitschige abdriften. Hier wird eine Sprachgewa­lt zelebriert (für den kaum zu übersetzen­den Glasgower Slang hat die Übersetzer­in eine eigene Form gefunden) als Auflehnung gegen das scheinbar unvermeidl­iche Schicksal. Als Hoffnung darauf, dass man am Ende in das bessere Leben – auf vertrackte­n und manchmal banalen Bahnen – doch einen Weg findet.

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