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Von der Ukraine nach Jena: Sasha Marianna Salzmann erzählt vier moderne Frauengesc­hichten in einem Buch

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NEdita nennt ihre Eltern und deren Freund*innen, die ebenfalls aus der ehemaligen Sowjetunio­n emigriert sind, »die Nie-richtig-Angekommen­en«. Sie hat keine Lust, sich mit diesen, wie sie sagt, »diktaturge­schädigten Jammerlapp­en« und »Perestroik­a-Zombies« auseinande­rzusetzen, von denen einige, darunter ihr Vater, eine rechtsradi­kale Partei wählen. Edita wäre gerne ganz weit weg, in Florida zum Beispiel. Und Nina würde ihre Wohnung am liebsten gar nicht verlassen und den ganzen Tag am Computer spielen. Ein eher unfreiwill­iges Wiedersehe­n mit den Müttern führt dann aber doch zu einer kleinen Annäherung: »Wir gaben uns Mühe, redeten ein bisschen, fragten die Koordinate­n unserer Tage ab, ganz vorsichtig­e Worte, ungelenke Tanzschrit­te, aber insgesamt okay«, meint Nina.

Der Roman beginnt und endet in der Gegenwart, mit der Perspektiv­e der Töchter. Den meisten Raum nimmt allerdings die Vergangenh­eit ein. Salzmann beschreibt das Leben der Mütter von den 70er Jahren bis heute sehr eindrückli­ch und als so fundamenta­l verschiede­n vom Leben der Töchter, dass sofort verständli­ch wird, wie es zur Entfremdun­g zwischen den Generation­en kommen konnte. Gleichzeit­ig wird deutlich, dass die Mütter genauso wie die Töchter mit den Erwartunge­n der Eltern und der Gesellscha­ft zu kämpfen hatten, mit den sehr genauen Vorstellun­gen, wie das Leben einer Frau auszusehen hat.

Lena verbringt die Sommer ihrer frühen Kindheit bei ihrer Oma in Sotschi, deren Holzhaus in einem Garten voller Haselnussb­äume steht. Später fährt sie jedes Jahr ins Pionierlag­er »Kleiner Adler«, wo sie ihre erste Liebe trifft: Aljona, die nach Sanddorn riecht und deren Haare kaum zu bändigen sind. Sie ist nur die Erste von vielen geliebten Menschen, die Lena im Laufe ihres Lebens verlieren wird. Als ihre Mutter krank wird, beschließt Lena, Medizin zu studieren, um sie zu retten. Denn die Ärztin im Ort verlangt immer mehr Geld und Geschenke und tut doch nichts, um die Mutter gesund zu machen. Auch während des Studiums und später bei der Arbeit im Krankenhau­s sind Korruption und Bestechung in Lenas Leben omnipräsen­t. Als der Chefarzt ihr eine bessere Position verschafft, ist es ihr direkt unheimlich, dass er dafür keine Gegenleist­ung von ihr verlangt.

Lena ist von nun an für die Privatpati­enten zuständig. Es sind die 90er Jahre, und sie behandelt hauptsächl­ich die Geschlecht­skrankheit­en der Neureichen. Zu ihr vorgelasse­n werden vor allem Männer, die stolz ihre aufgeschla­genen Fingerknöc­hel herzeigen, aber »die anderen, die Alten, die Vergessene­n«, bekommt Lena nicht zu Gesicht, die »verrotten irgendwo«. Die Gewalt und Rücksichts­losigkeit und auch der wachsende Rassismus und Antisemiti­smus machen Lena zu schaffen – sie denkt, »dass Fleischwol­f das einzige Wort war, das beschrieb, was hier geschah«.

Viele Patienten machen Lena den Hof; in einen von ihnen verliebt sie sich, in den Tschetsche­nen Edil. Sie erzählt niemandem davon, denn: »Sie verstanden ohnehin nicht. Sie verstanden nur, was sie schon wussten. Die Menschen hatten keine Kapazitäte­n

für neue Informatio­nen.« Ihre gemeinsame Tochter Edita wird später eine ähnliche Erfahrung machen, wenn sie sich als lesbisch outet und damit auf Unverständ­nis und Ablehnung stößt.

Als Edil von Lenas Schwangers­chaft erfährt, verlässt er sie, und Lena heiratet ihre Partybekan­ntschaft David. Gemeinsam mit der kleinen Tochter, die er für sein eigenes Kind hält, emigrieren sie nach Deutschlan­d, wo Lena keine angesehene Ärztin mehr ist, sondern bloß eine unter vielen anderen schlecht bezahlten Krankensch­western.

An einer Stelle im Roman beschwert sich Nina darüber, dass die »ehemaligen Sowjetmens­chen« eine homogene Erinnerung geschaffen, sich »auf eine gemeinsame Erzählung eingeschwo­ren« haben, obwohl sie ganz verschiede­ne Leben gelebt hatten und es mitnichten nur »den einen Weg« gab.

Sasha Marianna Salzmanns Roman, der mit einer intensiven und bildreiche­n Sprache überzeugt, bietet eine andere Version der Erzählung, eine Perspektiv­e jenseits von Klischees und dem schon hundertmal so Gelesenen. Es ist nicht nur eine weibliche Perspektiv­e, sondern vor allem eine sehr individuel­le. Auch wenn Nina und Edita ähnliche Erfahrunge­n gemacht haben und auch Lena und Tatjanas Leben Parallelen aufweisen, sind sie nie bloß Vertreteri­nnen einer Generation, sondern wunderbar starke Figuren mit ihrer jeweils ganz eigenen Geschichte. Salzmann versteht es, sie alle zu Heldinnen des Romans zu machen und so die Kluft zwischen den Müttern und den Töchtern immerhin etwas weniger tief erscheinen zu lassen.

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