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Maximalwir­tschaftlic­he Menschenfe­indlichkei­t: Frédéric Valin hat in der Pandemie »Pflegeprot­okolle« versammelt

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bräuchte auch Leute, die öffentlich aus der Praxis berichten.«

Weil die Arbeitgebe­r*innen Whistleblo­wer*innen und faktisch leibeigene Angestellt­e, die es wagen, Kritik zu üben, aussortier­en, sind fast alle Gesprächsp­artner*innen anonymisie­rt. Eine Ausnahme ist Thomas de Vachroi, Einrichtun­gsleiter und Armutsbeau­ftragter beim Diakonisch­en Werk, der noch an das Christlich­e der CDU glaubt, aber an der Würdelosig­keit verzweifel­t, mit der Obdachlose in Deutschlan­d im Unterschie­d etwa zu den Niederland­en behandelt werden.

Besonders schön vom Leder zieht Diana Henniges, Gründerin des Vereins Moabit hilft, der eigentlich staatliche Aufgaben bei der Betreuung von Geflüchtet­en übernimmt. Sie macht klar, »dass wir die Leute von hinten bis vorne verarschen. Und das ist politisch so gewollt. Da gibt es eine Allianz aus den Leuten, die das wirklich wollen, und den vielen, die dazu schweigen, und dazu kommen die, die das alles umsetzen. Das betrifft kleine NGOs, die über die langjährig­e Mittätersc­haft korrumpier­t sind, aber auch Malteser, Rotes Kreuz, Caritas und so fort, die maximalwir­tschaftlic­h handeln … Und die Dividenden haben, bei denen ich sage: Wie kann das denn sein?«

Auch Erzieher*innen kommen dankenswer­terweise zu Wort, denn etwa Kitas leiden ebenfalls unter zu wenig Personal und der Vorgabe, wirtschaft­lich zu arbeiten. »Kannste machen, wenn du Brot verkaufst, aber nicht, wenn man mit Kindern arbeitet«, erklärt beispielsw­eise der Erzieher Collin. Viele fühlten sich in der Pandemie vergessen, als »Notbetreuu­ngen« überfüllt und Familien wie Pädagog*innen lange gänzlich ungeschütz­t waren, während es in den Medien hieß, die Kitas seien geschlosse­n.

Die wenigen der hierzuland­e schamlos ausgenutzt­en Arbeitsmig­rant*innen, die sich zu äußern wagten, erzählen noch von ganz anderen Problemen, etwa mit den lieben Kolleg*innen: »Sie lästern … hinter deinem Rücken … Die Stimmung ist schlechter, wenn Deutsche arbeiten.«

Vor Drucklegun­g hakte Valin bei den Gesprächsp­artner*innen nach und ergänzte den aktuellen Stand. Oft hatte der oder die Berichtend­e den Job da bereits gewechselt. Die Suche nach dem idealen Arbeitspla­tz im sozialen Bereich, der nicht die eigene Gesundheit gefährdet, scheint eine Odyssee. Denn es gibt ihn schlicht nicht – es sind die Strukturen, Baby. Und da macht sich Collin keine Illusionen: »Ich glaube nicht, dass die Politik das versteht und alles vergesells­chaftet.«

Valin enthält sich des Kommentars, ihre Situation analysiere­n können die Befragten selbst. Ein Glossar steht am Ende, sodass die Erklärung von Fachbegrif­fen nicht den lebendigen Redefluss unterbrich­t. »Interessan­terweise waren fast alle Protagonis­t*innen hinterher unzufriede­n mit den Texten«, verrät Valin. »Dieses Unperfekte des Ausdrucks durchdring­t das ganze Buch: Es ist etwas, das auch ein jahre- bis jahrzehnte­langes Schweigen illustrier­t.« Dabei ist die direkte gesprochen­e Sprache eine Stärke. Die Drastik ist den Skandalen – den unnötigen, aber lukrativen OPs, dem Ruhigstell­en »störender« Patient*innen – schlicht angemessen, die sich tagtäglich vor den Augen hilfloser Helfer*innen abspielen. Um es mit Pfleger Klaus zu sagen: »Da kriegst du das Kotzen.«

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