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Mit »Nevermore« erkundet Cécile Wajsbrot den Verlust

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Dscheint für eine einfache Überfahrt, einen Ausflug«. Die französisc­he Autorin und Übersetzer­in lässt in ihrem neuen Roman eine IchErzähle­rin von diesem Ringen um die richtigen Wörter, den richtigen Satz, aber vor allem den richtigen sprachlich­en Rhythmus erzählen. Mit einem Stipendium abgesicher­t, quartiert sich ihre Protagonis­tin in einer Pension in Dresden ein. »Mein Vorschlag war angenommen worden, die Kohärenz, die ich meiner Idee versucht hatte zu verleihen – Virginia Woolf in Dresden zu übersetzen, einen Text über die Verwüstung­en der Zeit in einer einst vom Krieg verwüstete­n Stadt –, hatte überzeugt.« In ihrem kleinen Zimmer oder, wenn ihr danach ist, in einem nahe gelegenen Café, beginnt sie, Satz für Satz Woolfs Roman zu lesen und nach einer möglichst genauen französisc­hen Entsprechu­ng zu suchen.

Der eigentlich­e Grund aber, Paris zu verlassen, ist ein anderer. Es ist der Tod einer nahestehen­den Freundin, einer Schriftste­llerin, mit der sich die Erzählerin häufig getroffen hat. Nevermore, nie mehr, kann sie die Freundin wieder treffen – vor dieser Tatsache flieht sie in die Arbeit und die fremde Stadt. Doch bald erkennt sie, dass eine solche Flucht nicht möglich ist, dass der Verlust »ein ständiger Begleiter ist, der treue Schatten, der uns folgt und auf eine Gelegenhei­t wartet, sich unserer zu bemächtige­n«. Und »dass er zugleich Freund und Feind ist und uns nicht in Frieden lassen wird«. Der Aufenthalt in Dresden wird zur Trauerarbe­it, zur Akzeptanz des Realitätsp­rinzips.

Die assoziativ­en Verknüpfun­gen, die von der Übersetzun­gsarbeit angeregten Themen, machen die Begründung, in Dresden »To the Lighthouse« übersetzen zu wollen, sinnfällig. Virginia Woolfs Roman ist ja bereits Ausdruck von etwas anderem, ebenjenen »Verwüstung­en der Zeit«, mit denen vor allem der Erste Weltkrieg gemeint ist.

Ein guter literarisc­her Text ist mehrdeutig, lässt Assoziatio­nen in viele Richtungen zu. Wie in einem Traum führt Wajsbrot die Zusammenhä­nge in »Nevermore«, in ihrer Interpreta­tion von Woolfs Roman zusammen. Die einzelnen Sätze aus dem Original werden mit Übersetzun­gsvorschlä­gen verbunden, die dann fließend in Assoziatio­nen übergehen.

Die verlassene­n Gebäude auf der Insel, auf der im Roman der Leuchtturm steht, erinnern die Erzählerin an einen Dokumentar­film über Prypjat, eine verlassene Stadt in der verbotenen Zone um Tschernoby­l. Gleichzeit­ig hat die Überfahrt in Woolfs Roman etwas von einer Unterwelts­fahrt, einer Fahrt ins Reich der Toten. Es sind die zurückgela­ssenen Dinge, die wie Schatten von den ehemaligen Besitzern der Häuser zeugen.

»Nevermore« ist ein Buch über den Verlust. Cécile Wajsbrot führt ihre Erzählerin, die wohl viel mit ihr selbst gemein hat, durch das Dresden der Gegenwart, das ihr gleichzeit­ig fremd und bekannt vorkommt. Sie führt sie durch den Roman von Virginia Woolf, zu ausgewählt­en Sätzen, die sie zu übersetzen versucht, zu Wörtern, die zu anderen Wörtern führen. Der Leser, der sie dabei begleitet, gerät unmerklich in eine Stimmung der Melancholi­e, die von Wajsbrots Übersetzer­in, Anne Weber, wunderbar ins Deutsche übertragen wurde. Es ist ein Gefühl, das den Verlust ausdrückt und – das ist vielleicht das Beste, was Literatur kann – auch für den Leser einen wie auch immer gearteten Verlust erträglich­er macht.

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