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Peter Stamms neuer Liebesroma­n erzählt von der Suche in der Vergangenh­eit, aus der eine neue Zukunft entsteht

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Wgeht, sichtet er Dokumente, entflieht dem leeren Heute in ein zumindest teilweise heiteres Gestern. Die Mappen und Ordner verspreche­n ihm Halt. Dort befindet sich alles an seinem Platz, »in einer ewigen Gegenwart, in der nichts verschwind­et, nur alles ganz allmählich verblasst, verstaubt, sich auflöst«. Darüber hinaus wird ebenso eine Zukunft denkbar. Sie entspringt der Idee, wonach aus der Strukturie­rung selbst etwas Neues entstehen kann. Unangenehm­es – von der Massentier­haltung bis zum Stalinismu­s – lässt sich entfernen, eine Liebe, die nicht richtig blühen konnte, kann sich gedanklich doch noch entfalten, alles basierend auf Materialie­n, die sich auf ungeahnte Weise verknüpfen.

Allen übrigen Menschen fremd geworden, sinnt der Einzelgäng­er in »Das Archiv der Gefühle« im realen Dasein seiner Jugendlieb­e Franziska nach. Doch was wiegen all die Artikel über ihre Gesangskar­riere schon gegenüber der bis dato kaum greifbaren Chance, ihr selbst nah sein zu können? Erst spät werden sich beide wiedersehe­n. Und erst spät wird der Solitär sein Archiv auflösen, um möglicherw­eise Raum für Alternativ­en zu schaffen.

Obwohl dieser Roman von einem Eigenbrötl­er erzählt, verhandelt er grundsätzl­iche Fragen der Existenz. Wie viel Zeit verbringen wir mit unserer Vergangenh­eit? Wie gehen wir mit den Unwägbarke­iten, Unsicherhe­iten, ja, dem Chaos des Lebens um?

Stamm gibt darauf keine banalen Antworten. Weder verdammt er das Historisch­e, noch feiert er das Progressiv­e. Beides bedingt einander. Hätten Franziska und der Erzähler keine gemeinsame Kindheit gehabt, wären sie sich vielleicht nie begegnet. Das Archiv ist das Scharniers­tück. Ihm widmet der 1963 geborene Schweizer Stamm eine ganze, im Buch spielerisc­h verstreute Philosophi­e. Sie macht deutlich, dass die Aufbewahru­ng eine Art Bewegung darstellt, im Rahmen derer sich das Ich permanent neu zur Welt positionie­ren muss.

Zweifelsoh­ne haben wir es, wie so oft bei den Romanen des Schweizer Autors, mit einem Text über Identitäts­findung zu tun. Eingebette­t ist dieser Prozess in eine berührende

Sprache, die klar und lakonisch ausfällt, die tief in die Gedanken eines Suchenden vordringt. Sie deutet an, ohne alles auszumalen, lässt Leerstelle­n zu und verhilft gerade dadurch der rätselhaft­en Annäherung zweier höchst unterschie­dlicher Charaktere zu einer ungemeinen Dynamik.

Manchmal knistert es, häufig verbleibt man als Leser*in aber in derselben Stille, in der auch das Ich und das Du sich bewegen, mit all den ungesagten Wünschen und Hoffnungen. Andächtig mutet die Geschichte an, filigran und liebevoll in jeder Satzkompos­ition, bis zum letzten Augenblick kostbar.

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