Die kaputte Welt ist die des Kapitals – und die reicht nur bis zur Schlafzimmertür: Sally Rooneys tolle Masche
Edas tatsächliche Miteinander der Figuren, der ausführlichst beschriebene Sex zwischen ihnen und überhaupt das menschliche Verhalten, das in Rooneys Büchern geschildert wird. Das Interessante an den Sexszenen ist weniger die Beschreibung. Interessant ist, dass die Frauen und Männer einvernehmlichen Sex haben, und zwar bis in die tiefsten Tiefen der Bedeutung: Alle verhalten sich innig, sind zärtlich und einfühlsam; es wird immer höflich gefragt, ob etwas gemacht werden darf und wann. Der Sex in Rooneys Büchern ist also in höchstem Maße korrekt. Anders gesagt, niemand hat schlechten Sex bei Rooney. Alle haben guten.
Im Grunde trifft das auch auf das Liebesverhalten der Protagonistinnen und Protagonisten zu. Niemand ist hier wirklich falsch oder böse oder krank; nichts scheint toxisch, nichts von psychischen Gründen herzukommen, die unergründlich scheinen. Niemand nutzt hier jemanden einfach so aus. Gelegentlich gibt es Überschneidungen in den Konstellationen, und immer mal weint jemand aus Enttäuschung. Aber im Wesentlichen spielt Rooney auf der Ebene der Liebe das Gegenteil von dem durch, was sie auf der Ebene der Politik und des real existierenden Kapitalismus analysiert: Alle sind okay, niemand wird verletzt, und wenn doch, dann war es nicht so gemeint. Die kaputte Welt ist die des Kapitals – und die reicht nur bis zur Schlafzimmertür. Sally Rooney ist somit eine Art Anti-Houellebecq oder eine, die noch nichts von Eva Illouz gelesen hat. Gleichzeitig aber, und das ist vielleicht das Wesentliche und das Geheimnis ihres Erfolgs, entspricht sie in diesen Widersprüchen voll und ganz zumindest dem mitte-linken Zeitgeist.
Ihre Sprache ist nicht einfach, aber unkompliziert; ob Rooneys Literatur wirklich »barrierefrei« daherkommt, wie Marlen Hobrack in ihrer guten Rezension in der »Taz« meinte, sei einmal dahingestellt. Der Punkt an den Büchern ist, dass sie in der absoluten Gegenwart spielen. Nicht in einer vorgestellten, nicht in einer narzisstischen, sondern in der tatsächlichen: Die Figuren schreiben Threads, sie chatten und liken; sie unterhalten sich über Plastik, die Umwelt, die nahende Apokalypse, sie interessieren sich kurzum für Politik; sie suchen ihr Heil im Rückzug bei gleichzeitiger Kontrolle aller verfügbaren sozialen Kanäle.
Oder wie Rooney selbst über die Literatur der anderen schreibt: »Habe ich erzählt, dass ich keine zeitgenössischen Romane mehr lesen kann? Ich glaube, es liegt daran, dass ich zu viele der Leute kenne, die sie schreiben. Ich sehe sie die ganze Zeit auf Festivals, wie sie Rotwein trinken und darüber reden, wer wen in New York publiziert. Wie sie sich über die langweiligsten Dinge der Welt beschweren – schlechte Pressearbeit oder schlechte Besprechungen oder dass andere mehr Geld kriegen. Wen interessiert das? Und dann sind sie wieder weg und schreiben ihre sensiblen kleinen Romane über das ›normale Leben‹. In Wahrheit wissen sie nichts über das normale Leben. Die meisten von ihnen haben seit Jahrzehnten nicht mal mehr einen flüchtigen Blick auf die echte Welt geworfen.«
»Schöne Welt, wo bist du« ist gut gebaut, zumindest so lange, wie sich die Struktur nicht übermäßig wiederholt. Es gibt fesselnde Passagen und viel, viel Leerlauf dazwischen: Der Vergleich zu einer Netflix-Serie kommt nicht von ungefähr. Die Beschreibungen sind genau, die Figuren meist gut gezeichnet, nur unterscheiden sich besonders die weiblichen Figuren zu wenig in ihrer Sprache. Insgesamt tut es gut, Sally Rooney zu lesen – man lernt viel über die Wirklichkeit und wie sie sich eine oder zwei Generationen so vorstellt. Das trifft tatsächlich, da muss man der Autorin oder ihrer Erzählstimme zustimmen, nur auf ganz, ganz wenige aktuelle Romane zu.