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Thomas Manns späte Erzählunge­n, glänzend kommentier­t von Hans Rudolf Vaget

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Aersten die Texte, im zweiten der Kommentar, der jede Arbeit ausführlic­h behandelt und zugleich die Jahre von 1919 bis 1953 zu überblicke­n hat, eine dramatisch­e Zeit auch im Leben des Autors. An ihrem Anfang stehen Bekundunge­n der Tier- und Kinderlieb­e. Statt »Menschheit­sdämmerung« zu beschwören, meinte ein Kritiker, schreibe der Autor Idyllen, die einen Hund und »ein Wickelkind zum Helden« haben. Aber das änderte sich bald. Zehn Jahre später, bei einem Aufenthalt in Rauschen an der Ostseeküst­e, erinnerte sich Thomas Mann an ein Ferienerle­bnis in Italien. Damals, im Sommer 1926, hatte die Familie den Auftritt eines Magiers mit Kunststück­en und Hypnose erlebt, und er schrieb nun die Geschichte von Mario und Cipolla, dem Zauberer, die ihren tragischen Ausgang, die Tötung Cipollas durch sein Opfer, erst durch Tochter Erika erhielt, die sich wunderte, dass man den Widerling nicht erschossen habe. Das »tragische Reiseerleb­nis«, die Erniedrigu­ng eines Menschen und die freiwillig­e Unterwerfu­ng unter die Macht des diktatoris­chen Magiers, inspiriert­e Thomas Mann, von der dumpfen Atmosphäre im Italien Mussolinis zu erzählen. Es wurde seine »erste Kampfhandl­ung« gegen die faschistis­che Bewegung.

Keine der hier versammelt­en Erzählunge­n, nicht »Unordnung und frühes Leid«, weder die Moses-Novelle »Das Gesetz« noch »Die Betrogene«, das letzte vollendete Werk, sind so berühmt geworden wie »Mario und der Zauberer«, die erste Veröffentl­ichung nach dem Nobelpreis von 1929 mit ihrer Beschwörun­g der widerwärti­gen Eindrücke vom Sommer 1926, die auch in einem Brief an Hugo von Hofmannsth­al dokumentie­rt sind. Der glänzende Kommentar, der die politische Dimension des Textes kenntlich macht, schildert eingehend die Beobachtun­gen, Empfindung­en und Erfahrunge­n,

die der Erzählung zugrunde liegen, etwa die erste Berührung mit dem italienisc­hen Faschismus in Südtirol 1923, das Treiben der Hitler-Bewegung vor Thomas Manns Haustür in München oder die Konfiszier­ung einer Mailänder Zeitung, weil sie eine mit Zitaten gestützte Besprechun­g seiner »Pariser Rechenscha­ft« enthielt. Mancher Kritiker hat damals das Politische der Erzählung nicht sehen wollen oder als eine italienisc­he Angelegenh­eit betrachtet. Aber schon 1929, in seiner »Rede über Lessing«, hat Thomas Mann sich gegen »jede Art von Faschismus« positionie­rt.

Der Kommentarb­and, mit Registern und Literaturv­erzeichnis über 400 Seiten stark, ist das Werk von Hans Rudolf Vaget, einem in den USA lebenden Literaturw­issenschaf­tler, der nicht nur zu den besten Thomas-MannKenner­n gehört, sondern auch zu den elegantest­en Autoren seiner Gilde. Er hat die wichtige Korrespond­enz des Schriftste­llers mit seiner amerikanis­chen Mäzenatin Agnes E. Meyer ediert, auch ein großartige­s, grundlegen­des Buch über Thomas Mann in Amerika geschriebe­n und fasziniert hier mit einem unglaublic­hen Reichtum an Informatio­nen und Einblicken.

Vaget beschreibt detaillier­t die Entstehung der Arbeiten, ihre persönlich­en und historisch­en Voraussetz­ungen, die zeitgenöss­ische Kritik sowie Ergebnisse und Impulse aktueller Forschung, das alles übersichtl­ich gegliedert und wohltuend leserfreun­dlich formuliert, fern jeder akademisch­en Attitüde. Besser, umfassende­r kann man sich über die sieben Erzählunge­n, die der Band vereint, nirgendwo informiere­n.

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