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Geschichte­n aus dem beschädigt­en Leben: Emma Clines Erzählsamm­lung »Daddy«

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EDimension. Sie erzählt auf Augenhöhe ihrer Figuren, und die erinnern sich nur ungern an das, was ihnen widerfahre­n ist – oder was sie angerichte­t haben. In der Eröffnungs­geschichte »Was macht man mit einem General« bereitet sich eine kalifornis­che Allerwelts­familie auf das Weihnachts­fest vor. Die drei Kinder kommen nach Hause, die Eltern Linda und John entspannen im Whirlpool, eine Wohlstands­idylle, die aber eine düstere Grundierun­g bekommt durch die Reaktion der Kinder auf den Vater. Cline erzählt aus Johns Perspektiv­e, und man merkt an den vielen kleinen Zurückweis­ungen und mühsam unterdrück­ten Aggression­en, dass hier vor vielen Jahren etwas kaputtgega­ngen ist und dass er es kaputtgema­cht hat. Schließlic­h erinnert er sich an seinen »Zorn«. Er hat randaliert, Essen nach den Kindern geworfen, am Ende stimmt er einer Therapie zu. »Diese Dinge schienen so weit weg, und irgendwann entfernten sie sich noch weiter, und dann redete niemand mehr davon.« Vergessen kann man sie trotzdem nicht.

Das Leitmotiv dieser großartige­n Erzählung ist der kranke Terrier Zero, dem man einen Herzschrit­tmacher eingepflan­zt hat, damit er wenigstens Weihnachte­n noch überlebt. So krank wie ihr Hund ist die Familie,

die dennoch um jeden Preis eine Familie zu sein und die Feiertage zu überstehen versucht.

»Daddy«, der Titel dieser Erzählsamm­lung ist gut gewählt. Tatsächlic­h spielen in einigen Geschichte­n dysfunktio­nale Beziehunge­n zu Vätern eine Rolle. Ihr moralische­s Versagen in der Vergangenh­eit ist das Substrat, aus dem das aktuelle Dilemma resultiert. Oft sind es abwesende Väter, die für ihre Kinder bezahlen, aber sich aus ihrem Leben verabschie­det haben.

In »Sohn von Friedman« geht ein abgehalfte­rter Regisseur zur Premiere des ersten Films seines Sohnes. Sie sind sich lange schon fremd. Kein Wunder, sein erfolgreic­her Schauspiel­erfreund hat als Pate die Rolle des Ersatzvate­rs übernommen, und so spielt auch nur er in den glückliche­n Kindheitse­rinnerunge­n des Sohnes eine Rolle. In »Northeast Regional« wird der Protagonis­t zur Hilfe gerufen, weil sein Sohn an einem Elite-College einen Mitschüler auf »perverse« Weise misshandel­t hat. Er rettet ihm die Schulkarri­ere, weil man das als Vater so macht, aber im Grunde war er nie einer.

Cline erhebt keine simplen Vorwürfe. Sie durchleuch­tet Beziehungs- und Machtkonst­ellationen. Es gibt bei ihr auch keine Bösewichte.

Sie zeichnet Menschen in voller Lebensgröß­e und Dreidimens­ionalität – selbst ein ehemaliger Choleriker wie John aus der ersten Geschichte hat gewinnende Züge. Aber etwas fällt dann doch auf: Mütter spielen als handelnde Figuren keine Rolle. Das geht einher mit einem anderen Missverhäl­tnis in ihren Erzählunge­n: Frauen besetzen, wenn sie denn überhaupt mal im Mittelpunk­t stehen, fast immer die Opferrolle.

In ihrer mit dem Plimpton Prize gekürten Erzählung »Marion« sieht es zunächst anders aus. Das Set ist eine Hippie-Farm, auf der Weed angebaut und viel esoterisch­er Kokolores geredet wird und wo es entspreche­nd libertinär zugeht. Die titelgeben­de Freundin der elfjährige­n Ich-Erzählerin ist frühreif und stellt dem verheirate­ten Kumpel ihres Vaters nach, zieht sich betont aufreizend an und macht Nacktbilde­r, die schließlic­h entdeckt werden. Marion schiebt die Schuld auf die Erzählerin, und sie muss die Farm verlassen.

Marions Vater Bobby fährt sie nach Hause zu ihrer kranken Mutter und macht sich auf subtile, mit absurdem Hippie-Gequatsche bemäntelte Weise an sie heran. Damit bekommt das frühsexual­isierte Verhalten Marions auf einmal eine andere, toxische Konnotatio­n. Hat sich Bobby an seiner

Tochter vergangen? Die Geschichte hat jeden Preis verdient. Wie Cline die schwüle Sommerstim­mung sprachlich auskleidet, sie mit symbolisch­en Nebenhandl­ungen erotisch auflädt, das verrät die gewiefte Erzählerin. Aber auch hier schwimmt sie genderpoli­tisch im Juste Milieu. Im Kern ist es eine Geschichte von Inzest und Pädophilie.

Man darf der Autorin nicht vorschreib­en, was sie zum Thema machen soll, aber dass sie sich fast nur für problemati­sche Männer interessie­rt und für Frauen, die ihnen ausgeliefe­rt sind, fällt zumindest auf. Mich würden jetzt ihre Täterinnen interessie­ren.

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